Nordische Mittelsteinzeit, Geweihhacke, Feldbau und Kulturgegenströmung

Geweih-Feldhacken aus der Mittelsteinzeit

Bild: Geweihacken aus der Sammlung des Museum of London. „Die Polierspuren um die Spitze sind teilweise natürliche Abnutzung durch den Hirsch und teilweise Gebrauch/Verschleiß als Hacke.“ Datiert zwischen 10.000 v. Chr. und 43.000 v. Chr.

Als interessierter Leser der Publikation von Prof. Dr. Emil Werth, Grabstock, Hacke und Pflug (1954), bin ich mittlerweile in einem bestimmten Punkt „gedanklich verseucht“ – nämlich in Bezug auf ein scheinbar nebensächliches Gebiet der Archäologie: die sogenannten Geweihhacken (engl. antler picks oder antler mattocks), beziehungsweise Geweihäxte.

Es handelt sich dabei, kurz gesagt, um Werkzeuge aus Hirschgeweih, die zum Graben in der Erde, im frühen Bergbau, als Bodenbearbeitungsgeräte oder vielleicht auch zum Aufbrechen von Knochen großer Tiere dienten.

Geweihhacke Abbildung
2) Geweihhacke aus der archäologischen Fundstätte Star Carr (England). Das war der Anlass für diesen ersten Artikel zum Thema.

Früheste Zeugnisse und Blütezeit

Geweihwerkzeuge sind bereits aus dem Paläolithikum und Mesolithikum bekannt – etwa aus der Ertebølle-Kultur (ca. 7. Jahrtausend v. Chr.). Ihre eigentliche Blütezeit als vielseitig eingesetzte Werkzeuge erreichten sie jedoch im Neolithikum, wo sie im Feuersteinbergbau und in der frühen Landwirtschaft nahezu unentbehrlich wurden.

Nach Prof. Werth sind solche Funde, insbesondere die ältesten, ein deutlicher Hinweis auf frühe Formen bäuerlicher Bewirtschaftung. Dort, wo Geweihhacken auftauchen, kann also von einer mehr oder weniger entwickelten Hackbaukultur gesprochen werden – jener technologischen Stufe der Landwirtschaft, die dem eigentlichen Pflugbau vorausging.

Kulturindikatoren einer Hackbaugesellschaft

Werth sah in diesen Geräten nicht bloß Werkzeuge, sondern kulturelle Marker. Das Auftreten der Geweihhacken verweist seiner Ansicht nach auf Gemeinschaften, die bereits über ein komplexes handwerkliches und soziales Repertoire verfügten. Zu diesen Merkmalen einer Hackbaukultur zählen:

  • Hackbau-Landwirtschaft: Es wird gepflanzt (teils auch durch Tümpelsaat), jedoch noch nicht gesät.
  • Textilverarbeitung: Spinnen, Weben und Filzen; der primitive Griffelwebstuhl ist in Gebrauch.
  • Nahrungsverarbeitung: Verwendung von Mörsern zur Verarbeitung von Getreide und Pflanzen.
  • Gärungskultur: Früchte werden vergoren, Bier gebraut.
  • Tierhaltung: Schweine, Hunde und Ziegen werden primär zur Fleischgewinnung gehalten.
  • Bauweise: Viereckhäuser verdrängen zunehmend die Rundhäuser.
  • Keramik: Freihand-Töpferei entsteht.
  • Werkzeugentwicklung: Beile werden aus Stiel und Klinge zusammengesetzt (Winkelschäftung). Daraus entwickeln sich Axt, Hacke und Hammer.
  • Technologische Schwelle: Durchbohrte Steinäxte – die späteren Nachfolger der lochgeschäftetenGeweihhacken – gehören ausschließlich der pflügenden Kultur an.

Die rätselhafte Lochschäftung

Besonders bemerkenswert ist die Lochschäftung dieser frühen Geweihhacken – also die Befestigung des Stiels durch ein gebohrtes Loch im Werkzeugkopf, wie man es von Hämmern oder Äxten kennt.
Was uns heute selbstverständlich erscheint, ist im Kontext der Mittelsteinzeit höchst erstaunlich. Denn diese Technik der Lochschäftung setzt ein Verständnis für Materialbeanspruchung, Stabilität und Hebelwirkung voraus – Kenntnisse, die man gemeinhin erst späteren Epochen zuschreibt.

Zudem hätten solche Werkzeuge aus Geweih auch einteilig, also ohne Lochschäftung, hergestellt werden können – was bei reinen Grab- oder Bergwerksgeräten (etwa aus Flintminen oder Ockergruben) auch der Fall war. Umso erstaunlicher also, dass man sich der aufwendigeren Konstruktionsweise bediente.

Dies wirft Fragen auf: Dienten diese Geräte tatsächlich dem praktischen Feldhackbau? Oder hatten sie einen rituellen oder symbolischen Charakter – als Statussymbole oder Zeichen einer kultischen Funktion? Grabfunde mit Geweihäxten als Beigaben deuten jedenfalls in diese Richtung.

Von der Geweihhacke zur duchbohrten Steinaxt

Noch bemerkenswerter ist, dass in denselben Kulturregionen später lochgebohrte Steinäxte entstanden – Geräte, die heute in großer Zahl in Museen zu finden sind. Auch ihnen wird häufig ein symbolischer Charakter zugeschrieben, da sie für den schweren Arbeitseinsatz kaum geeignet gewesen sein dürften.
Man könnte also sagen: Die Idee der Lochschäftung wurde zunächst gedacht, bevor sie technisch voll ausgeschöpft werden konnte – ein faszinierendes Beispiel für die geistige Dynamik vorgeschichtlicher Kulturen.

Werths kulturgeschichtliche Deutung

Prof. Werth verknüpft diese lochgebohrten Geweihhacken – und alle Geräte ähnlicher Bauweise – mit der frühen Entwicklung des Ackerbaus und schließlich des Pflugbaus.
Er führt deren Ursprünge auf die nordische Campignienkultur zurück, eine Mittelsteinzeitkultur, von der aus sich diese Technologie nach seiner These von Nordwesteuropa ausgehend bis zur Bronzezeit in südöstlicher Richtung bis nach Ostasien und Japan ausbreitete.

Werths Skizze zur Kulturgegenströhmung
3) Werths Skizze zur Kulturgegenströhmung der lochgeschäfteten Geräte von I ausgehend

Diese Bewegung beschreibt Werth als eine „Kulturgegenströmung“ – eine Gegenbewegung zu den von Osten kommenden Einflüssen des frühen Pflugbaus, der in Asien an den Übergängen zwischen tropischen und gemäßigten Klimazonen entstanden war, dort, wo das Rind als Zugtier und Hirsen als Saatgetreide in Gebrauch kamen.

Fazit

Die unscheinbare Geweihhacke entpuppt sich bei näherem Hinsehen als ein kulturgeschichtlicher Schlüsselgegenstand.

Sie steht am Übergang vom Jagen und Sammeln zum gezielten Anbau, vom improvisierten Werkzeug zur technischen Konstruktion. Ihre Lochschäftung ist Ausdruck eines technischen Ahnungsvermögens, das weit über den unmittelbaren Gebrauchswert hinausweist.

Wenn Werth recht hat, dann war die Geweihhacke nicht nur Werkzeug, sondern Symbol einer geistigen Schwelle – der bewussten Aneignung der Erde.

Vielleicht liegt gerade darin ihre Faszination: Sie markiert jenen Moment, in dem der Mensch begann, nicht nur zu graben, sondern zu gestalten.

Beitrag in Erstellung. Quellen folgen

Bild 2) SKLENÁŘ, Karel; Spuren der Vergangenheit – Archäologie in Europa; 1978; Seite 58/59

Bild 3) WERTH, Prof. Dr. Emil; Grabstock Hacke und Pflug; Ludwigsburg 1954; Seite 95

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