Das Overton-Fenster erklärt – Wie gesellschaftliche Meinung durch das Licht auf der Bühne gelenkt wird

Theater-Bühne

Bild: Die „Welt“, die man dir vorstellt, ist ein Bühnenbild, gefüllt mit Illusionen.

[Illusion]

Schweineschmalz und Gartengestaltung

➡️ Merkwürdig – kaum hatte ich meinen Blog-Artikel „Schweineschmalz im neuen Licht: Fett und Schmalz als natürliche Vitamin-D-Quelle“ fertiggestellt, kam mir schlagartig eine Manipulationstechnik in den Sinn, über die ich vor gut zehn Jahren gelesen hatte.

Vitamin D im Schweineschmalz – eigentlich eine bekannte Tatsache, doch in der öffentlichen Wahrnehmung nahezu vollständig ausgeblendet. Aus heutiger Sicht ein klassischer Fall selektiver Sichtbarmachung.

Was nun das sogenannte Overton-Fenster betrifft: Ich hatte es bislang reflexartig der Kategorie politischer Illusionierung zugeordnet – und dabei übersehen, dass es sich weit über den politischen Raum hinaus anwenden lässt.

Und ja – inzwischen ist mir sogar eingefallen, dass sich diese teuflische [1] Methode der Diskurs- und Aufmerksamkeitslenkung durchaus auch im Guten nutzen lässt.

Wenn es um Manipulationstechniken geht – ich habe es an anderern Stellen bereits mehrfach erwähnt – dann ist deren Verständnis auch  ein fundamentales Werkzeug für die Gartenkunst. Denn ein gelungener Garten ist immer auch eine gezielt erzeugte Illusion [2].

 

Mondfenster
Chinesischer Garten: Ein sogenanntes Mondfenster rahmt eine Ansicht ein. Hier ist das Einrahmen erlaubt – nur hier. Der Ausschnitt wandert mit dem Vorübergehen. [3]
Bevor ich mich jedoch der konstruktiven, vielleicht sogar heilsamen Anwendung solcher Techniken zuwenden kann, führt kein Weg daran vorbei, zunächst das diabolische Potenzial dieser Theorie nüchtern zu beschreiben.

 


Das Overton-Fenster erklärt – Wie gesellschaftliche Meinung durch das Licht auf der Bühne gelenkt wird

Die Theorie des sogenannten Overton-Fensters stammt ursprünglich aus der Politikwissenschaft – doch ihr eigentlicher Wirkungsraum reicht weit darüber hinaus. Denn das Modell beschreibt nicht nur, wie politische Ideen vom Undenkbaren zur akzeptierten Norm werden, sondern lässt sich ebenso in Kultur, Wissenschaft, Religion, Alltagsgewohnheiten und menschliche Beziehungen beobachten.

Vieles, was wir heute als selbstverständlich empfinden, war einst verpönt oder unvorstellbar – und umgekehrt.

Dabei zeigt das Modell zugleich: Diese Wandlungen geschehen selten zufällig. Sie folgen einer gewissen Dramaturgie – gesteuert von Einzelpersonen oder aktiven Gruppen, klein oder groß; also von Meinungsnetzwerk-Syndikaten.

Trotz seiner Tragweite steht das Overton-Fenster selbst erstaunlich selten im Rampenlicht. Dabei liefert es ein scharfes Analyseinstrument, um zu verstehen, wie sich kollektive Wahrnehmung verschiebt – oder verschoben wird.

Clown und Soldat
Nie wieder Krieg! [4]
Zumeist wird das Modell recht abstrakt erklärt: als jene „Bandbreite des Sagbaren“ [2], innerhalb derer Gedanken, Forderungen oder Meinungen öffentlich geäußert werden dürfen. Doch lässt es sich anschaulicher fassen – mit einer Metapher, die das Wesen des Modells intuitiv verständlich macht:

Die Bühne der öffentlichen Meinung

Man stelle sich die gesellschaftliche Kommunikation als eine Theaterbühne vor. Auf dieser Bühne spielt sich alles ab, was gesagt, gedacht, gefordert oder überhaupt wahrgenommen werden darf – aber eben nicht alles gleichzeitig.

Diese Bühne ist groß. Es gibt unzählige Requisiten, Figuren, Szenenbilder. Doch:

Nur ein kleiner Teil ist im Licht.

Im Scheinwerferkegel liegt der Fokus. Dort sieht das Publikum klar. Hier finden die Debatten statt, werden Narrative geformt, entstehen Deutungsmuster. Was sich in diesem Licht befindet, ist sichtbar – sprich: präsent, akzeptiert, zumindest diskutierbar.

Was außerhalb des Lichtkegels liegt, bleibt im Dunkel. Es existiert – aber es ist dem Auge entzogen. Es wird ignoriert, ausgeblendet oder als irrelevant abgestempelt. Diese Wahrnehmung wird oft gezielt erzeugt.

Die Theatertechnik kennt dabei verschiedene Kniffe: Ein kurzer Lichtblitz kann einen schattenverzerrten Eindruck erzeugen. Mit reflektierenden Kostümen, Masken oder Requisiten lässt sich spielen. Auf der Bühne der Gesellschaft kommt solchen Effekten eine zentrale Rolle zu.

 


Die Techniken der Verschiebung – Licht als Meinungsarchitekt

Ein gut inszeniertes Theaterstück lenkt das Licht mit Bedacht. Genauso wird in der gesellschaftlichen Debatte das Sichtbare kuratiert:

A. Den Lichtkegel langsam verschieben

→ Will man eine neue Idee ins Zentrum rücken, verschiebt man den Scheinwerfer in kleinen Schritten – etwa vom klassischen Familienbild hin zu alternativen Lebensmodellen. Anfangs am Rand beleuchtet, später mittig ausgeleuchtet. Die Wahrnehmung passt sich an.

🎭 Theatermetapher: Ein Nebendarsteller steht zunächst halb im Licht am Bühnenrand. Später tritt er ins Zentrum – und offenbart sich als tragende Figur.

B. Eine neue Szene harmlos ins Licht setzen

→ Auch eine provokante Idee kann eingebracht werden – wenn sie charmant inszeniert ist. Etwa über eine sympathische Figur, eine humorvolle Geschichte oder als scheinbar nebensächliches Detail.

🎭 Beispiel: Der Verrückte tritt zuerst als spaßiger Clown auf – später wird er zum tragischen Helden. Das Publikum hat sich längst an ihn gewöhnt.

C. Im Schatten Unerwünschtes verschwinden lassen

→ Während Neues betont wird, rückt anderes in den Schatten. Man blendet es aus – nicht weil es verschwindet, sondern weil das Licht fehlt. Und was im Dunkeln liegt, wird nicht mehr wahrgenommen.

🎭 Szenenwechsel: Vorne spielt die große Liebesszene. Hinten wird still die Folterkammer abgebaut. Niemand bemerkt es.

→ Den Rahmen des Sichtbaren verschieben:

Overton window Diagram
So funktioniert das Verschieben im „Bereich der Akzeptanz“ ©Hydrargyrum, 2015

Übrigens: Nicht nur das Licht lässt sich bewegen – auch die Bühne selbst. Was gestern außerhalb des Bildes war, wird heute Teil des Geschehens.
Das ist der eigentliche Kunstgriff des Overton-Fensters: Die Ränder des Sagbaren werden ausgeweitet. Stück für Stück.

 


Die sechs Stufen der Sichtbarkeit – Weiterführung der Theorie

Joseph P. Overton, US-amerikanischer Politologe beim libertären Mackinac Center for Public Policy, fragte sich in den 1990ern: Warum werden manche Ideen plötzlich mehrheitsfähig – obwohl sie vormals als absurd galten? Und warum verschwinden andere, obwohl sie plausibel erscheinen?

Seine Antwort: Nicht die Realität scheitert – sondern die Wahrnehmung. Und diese folgt einer Logik: 1. undenkbar → 2. radikal → 3. akzeptabel → 4. sinnvoll →5. populär → 6. Staatspolitik

Die Overton-Stufe im Theater präsentiert

  1. „Undenkbar“ → Unsichtbar – Requisite im Dunkeln; die Idee ist nicht existent im Diskurs.
  2. „Radikal“ → Schockierend – Kurz angeleuchtet Reaktion: „Was soll das denn?“
  3. „Akzeptabel“ → Irritierend – Figur betritt das Licht; erste Neugier, leises Tuscheln.
  4. „Sinnvoll“ → Diskutabel – Erste Dialoge auf der Bühne; die Idee wird verhandelt. [4]
  5. „Populär“ → Sympathisch – Applaus setzt ein; die Figur wird verstanden, akzeptiert.
  6. „Staatspolitik“→ Zentral – Im Hauptlicht; die Idee ist angekommen. Mainstream.

So wird aus dem vormals Abseitigen das neue Zentrum. Aus dem Rand eine Mitte.

Warum dieses Bühnenbild so aufschlussreich ist

Weil es das Denken der Menschen in Bildern fasst. Nicht in theoretischen Begriffen, sondern in sichtbaren Szenen, Rollen, Dramaturgien.

Medien, Werbung, politische Kommunikation, Aktivismus – sie alle sind Regisseure dieser Bühne. Mal laut, mal subtil. Aber stets mit klarem Ziel:

➡️ Nur was im Licht steht, wird wahrgenommen.

➡️ Was im Schatten bleibt, existiert nicht – zumindest nicht im kollektiven Bewusstsein.

Fazit: Wer das Licht lenkt, lenkt die Gesellschaft

Das Overton-Fenster ist ein verschwörungs-theoretisches Modell oder ein präzises Instrument gesellschaftlicher Analyse. Man nehme es, wie man will. Es erklärt allerdings nicht, wer etwas tut, sondern wie sich das Sagbare verändert – und mit ihm die Wirklichkeit.

Wenn dir ein Thema plötzlich überall begegnet, das zuvor kaum jemand ansprach, dann bist du Zeuge einer Lichtverschiebung.

Die Bühne der Gesellschaft ist niemals statisch. Wer die Lichtführung versteht, versteht auch den Wandel … und in der Regel steht er selber im Dunkel.

Zum Nachdenken:

  • Beim nächsten Theaterbesuch – achte nicht nur auf die Handlung. Achte auf das Licht.
  • Beobachte, wie Figuren ins Zentrum treten, wie andere verschwinden.
  • Denn genau so funktioniert auch unsere öffentliche Meinung.

 


Quellen und weitere Bemerkungen

[1] Jesus lehrte: „Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Bösen.“ (Lutherübersetzung, Matthäus 5,37)
Dieser Satz stammt aus der Bergpredigt und steht im Kontext von Eidesformeln. Doch der tiefere Sinn ist weitreichender: Er fordert Klarheit, Wahrhaftigkeit und Einfachheit in der Sprache – ohne rhetorische Verschleierung oder taktische Mehrdeutigkeit. Was darüber hinausgeht, wird als „vom Bösen“ bezeichnet – eine bemerkenswert deutliche Ablehnung manipulativer Rhetorik.

[2] https://web.archive.org/web/20181214125042/ https://de.wikipedia.org/wiki/Overton-Fenster
Hier das Zitat: „Nach dem politischen Sprecher Joshua Treviño lässt sich das Fenster gemäß dem Grad der Akzeptanz öffentlicher Ideen in folgende grob gefasste Bereiche unterteilen: undenkbar, radikal, akzeptabel, sinnvoll, populär –> Staatspolitik“

[3] Chinesischer Garten in Bochum und dazu das Thema: Sophismus und seine Manipulationstechniken.

[4] (Phase 1) Siehe: Plakat »Nie wieder Krieg«, 1924
(Phase 4) Evangelische Akademie Tutzing: “Wir müssen kriegstüchtig werden” Auf dieser Seite findet sich gleich noch das sinnreiche Zitat:
„Ein Fürst darf das Kriegshandwerk niemals vernachlässigen und muss sich im Frieden noch intensiver damit befassen als im Krieg. Dies kann auf zwei Weisen geschehen: durch Handeln und durch Nachdenken.“

Lies auch: Fragmentierte Wissenvermittlung 
Oder: Quiz-Sendungen. Die Latrine für unnützes Wissen? 

  • Auf derkleinegarten.de findest du über hundert Seiten von mir zum Thema der Gartengestaltung.
  • Ähnlich dem Overton-Fenster: https://de.wikipedia.org/wiki/Hallin-Sph%C3%A4ren
  • https://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_P._Overton
  • https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Overton_Window_diagram.svg
  • Ein Video-Klassiker der Aufklärung über tecniken der Manipulation (Video in den Webarchiven) Rainer Mausfeld – Warum schweigen die Lämmer? Vortrag im DAI Heidelberg; DAI Heidelberg; 27.06.2019

Nachtrag. Ein einteressante Feststellung.

Ich habe die Grok-KI gefragt, ob sie weiterführende Manipulations-Techniken (in Bezug auf das Overton-Fenster) im Intenet bemerkt. „Hier eine gewichtete Liste der weiterführenden Techniken im Zusammenhang mit dem Overton-Fenster, geordnet nach geschätzter Anwendungshäufigkeit (häufigste oben):

  1. Framing: Themen werden durch gezielte Wortwahl, Narrative oder Perspektiven gerahmt, um die Wahrnehmung zu lenken. Beispiele: Schlagzeilen oder Hashtags, die ein Ereignis in eine bestimmte Richtung interpretieren. (Sehr häufig, da Sprache und Kontext online allgegenwärtig gesteuert werden.)
  2. Emotionale Ansprache: Inhalte zielen auf starke Gefühle wie Wut, Angst oder Empörung ab, um Engagement zu maximieren. Beispiele: virale Memes oder Posts, die Empörung schüren. (Extrem verbreitet durch Algorithmen, die Emotionen priorisieren.)
  3. Wiederholung: Narrative, Schlagworte oder Hashtags werden konstant wiederholt, um sie zu normalisieren. Beispiele: sich wiederholende Phrasen in Kampagnen oder Trends. (Häufig, da Wiederholung online durch Reichweite verstärkt wird.)
  4. Populismus: Vereinfachende Narrative oder Feindbilder (z. B. „Volk vs. Eliten“) mobilisieren Unterstützung. Beispiele: polarisierende Posts, die einfache Lösungen bieten. (Sehr verbreitet in politischen Diskursen.)
  5. Whataboutismus: Ablenkung durch Gegenfragen oder andere Themen. Beispiele: Kommentare, die Kritik mit „Und was ist mit…?“ kontern. (Häufig in Online-Debatten, aber etwas spezifischer.)
    Desinformation: Verbreitung falscher oder irreführender Informationen, oft durch Memes oder manipulierte Inhalte. Beispiele: gefälschte Statistiken oder Zitate. (Verbreitet, aber abhängig von Plattform-Moderation.)
  6. Tabubruch gezielt einsetzen: Extreme Positionen werden eingebracht, um den Diskurs zu erweitern. Beispiele: provokante Posts, die Grenzen testen. (Weniger häufig, da riskant, aber strategisch genutzt.)
    Moralische Appelle: Werte oder Moral werden genutzt, um Zustimmung zu gewinnen. Beispiele: Posts, die an „Gerechtigkeit“ oder „Freiheit“ appellieren. (Häufig, aber oft subtiler.)
  7. Kognitive Dissonanz ausnutzen: Widersprüchliche Informationen sorgen für Zweifel an bestehenden Überzeugungen. Beispiele: gezielte „alternative Fakten“-Kampagnen. (Seltener, da komplexer in der Umsetzung.)
  8. Dekontextualisierung: Informationen werden aus dem Zusammenhang gerissen, um eine neue Bedeutung zu schaffen. Beispiele: manipulierte Zitate oder Videoschnipsel. (Seltener, da es präzise Planung erfordert.)
  9. Fakten und Logik selektiv nutzen: Auswahl von Informationen, die nur eine Perspektive stützen. Beispiele: einseitige Statistiken in Posts. (Seltener, da es recherchierte Argumentation voraussetzt.)

Die Gewichtung basiert auf der Beobachtung, dass Framing und emotionale Ansprache durch die Struktur des Internets (Algorithmen, virale Inhalte) besonders häufig und effektiv sind, während komplexere Techniken wie Dekontextualisierung oder kognitive Dissonanz seltener, aber gezielt eingesetzt werden.“ KI ist nützlich!

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