Bild: Am Abend des Herbst-Vollmondes ist es Tradition, sich an einem Ort mit freier Sicht auf den Mond zu versammeln, diesen mit Chinaschilf-Blüten zu schmücken und dem Mond weiße Reismehlklöße (Tsukimi Dango) und andere saisonale Speisen sowie Sake als Opfergaben darzubringen, um für eine reiche Ernte zu erbiten. [1]
[Japan]
🎑 Wenn in Japan der Sommer langsam ausklingt und die Nächte klarer werden, beginnt eine der stillsten, poetischsten Traditionen des Landes: Tsukimi (月見) – das Betrachten des Mondes [2].
Während das berühmte Kirschblüten-Hanami den Frühling feiert, ist Tsukimi sein herbstliches Gegenstück. Und vielleicht gehört auch der Brauch der Herbstlaubbetrachtung, das Momijigari (紅葉狩り), dazu – korrekt übersetzt „Herbstlaubjagd“. All diese Besonderheiten Japans, die wir in Europa oft kaum wahrnehmen, bilden eine eigene kleine Welt der Naturbetrachtung.
Diese Bräuche verbindet eine gemeinsame Wesensart:
das Innehalten,
das Vergängliche würdigen,
und das Schöne dort zu finden, wo es sich im Wandel zeigt.
Ein Fest aus Licht, Stille und Gemeinschaft
Das Vollmondfest findet meist im September oder Oktober statt, rund um den ersten hellen Vollmond des Herbstes. In dieser Jahreszeit ist der Mond besonders klar und wirkt durch die flachere Laufbahn am Himmel größer und goldener. Der sogenannte Erntemond geht aus astronomischen Gründen oft kurz nach Sonnenuntergang auf und steht dabei optisch groß und tief am Horizont.
In der japanischen Kultur gilt dieser Herbstmond seit Jahrhunderten als Moment des Dankes, der Besinnung und der geselligen Harmonie.
Traditionell treffen sich Familien, Freunde oder Nachbarn an einem Ort, von dem aus der Mond gut sichtbar ist:
– im Garten,
– auf einem hölzernen Engawa, der klassischen Veranda japanischer Häuser,
– in den Höfen von Tempeln oder Schreinen.
Dort sitzen die Menschen beisammen, sprechen wenig, genießen aber desto intensiver – den klaren Himmel, den hellen Mond und die Atmosphäre zwischen Spätsommer und beginnendem Herbst.

Opfergaben und Speisen der Saison
Zum Tsukimi gehören bestimmte Gaben, die anmutig auf niedrigen Tischen oder kleinen Altären arrangiert werden:
- Tsukimi-Dango – runde, weiße Mochi-Bällchen, die den Vollmond symbolisieren
- Susuki-Gras – Miscanthus sinensis, das Chinaschilf (Bild oben), deren silbrig weiche Rispen an Herbstwinde erinnern
- Saisonale Speisen wie Süßkartoffeln, Kastanien oder Ohagi (Reisbällchen mit Bohnenpaste)
Diese Opfergaben werden traditionell zunächst für den Mondgeist bereitgestellt – gleichsam ein Ausdruck von Dankbarkeit für die Erntezeit – und später gemeinsam gegessen.
Der Begriff „Mondgeist“ ist hier eine vereinfachte Übersetzung für ein traditionelles, nicht streng religiöses Konzept: eine symbolische Geste des Respekts, eine sanfte, poetische Spiritualität.
Die Tsukimi-Feste sind natürlich auch spektakulär, wie Tsukimi no Owara in Etchu-Yatsuo, Präfektur: Toyama auf der insel Honshu. Ein elegantes, melancholisches Tanz- und Musikfestival, das schon seit etwa 300 Jahren Tradition hat:
Quelle: YouTube: 月見のおわら – TSUKIMI NO OWARA – Full 【2025 最新 – 公式】20.2.2025
Tsukimi in Tempeln und Schreinen
Viele Tempel-Schreine öffnen speziell zu Tsukimi ihre Höfe und Gärten. Zwischen Laternenlicht, Wasserbecken und dunklen Zedernhainen lässt sich der Vollmond in einer fast zeitlosen Atmosphäre beobachten.
Übrigens kann man das Fest auch in Deutschland begehen. Ein bekanntes Beispiel ist das Vollmondfest (Otsukimi-Fest) der Tenri Japanisch-Deutschen KulturWerkstatt e.V. in Köln. Dort gehören Teezeremonien, Musik und das gemeinsame Genießen von Herbstspeisen zum Programm – ganz nach japanischem Vorbild.
Der Herbstmond als kulturelles Motiv
Der helle, klare Herbstmond spielt im japanischen Denken eine große Rolle.
In der Poesie, in buddhistischen Texten und im Alltagsleben gilt er als Sinnbild für Erkenntnis, Klarheit und Loslassen.
Die ältesten Haiku-Sammlungen nennen den aki no tsuki – den Herbstmond – sogar als Jahreszeitenwort (季語), das allein durch seine Erwähnung eine ganze Stimmung erzeugt.

Eine spirituelle Note – und eine persönliche Beobachtung
In vielen Texten wird das Fest des Vollmondes mit einer stillen Spiritualität verbunden:
Der helle Vollmond gilt als Symbol für Klarheit, Einsicht und das kurze Aufleuchten des Vergänglichen.
Doch diese Qualität zeigt sich nicht nur dann, wenn der Mond hell über den Tempeldächern steht. Gerade an jenen Abenden, an denen Wolken den Himmel bedecken, zeigt sich eine typisch japanische Haltung: Man feiert trotzdem.
Der in Wolken verhüllte Mond – oborozuki – wird als ebenso schön empfunden wie der offene.
Nicht das Sichtbare, sondern das Erwartete, das Erahnte, das Unvollkommene wird gewürdigt.
Der Abend wird nicht abgesagt; er verwandelt sich.
Man wartet, man genießt die Stille, man beobachtet, wie sich das Mondlicht vielleicht nur schwach durch die Wolken schiebt.
Diese Fähigkeit, eine Situation nicht zu bekämpfen, sondern sie zu verwandeln, trägt eine besondere Gelassenheit in sich.
Und wenn bei uns immer wieder die Frage nach einer „typisch japanischen Spiritualität“ auftaucht – mit der man es nicht übertreiben sollte – dann erscheint mir als Außenstehender vielleicht etwas ganz anderes ebenso bedeutsam:
das bewusste Einüben jener fernöstlichen Gelassenheit, die zugleich eine Kunst der Improvisation ist.
Das Schönfinden auch im Nicht-Gelingen,
das Weiterfeiern trotz Wolken,
das Akzeptieren eines Moments, der nicht perfekt ist – und gerade dadurch wirkt.
Vielleicht gehört genau dies zu jenen kleinen Eigenarten Japans, die uns so fremd erscheinen und gleichzeitig anziehend:
das stille Einverständnis mit der Natur,
das Ruhige im Wechsel,
und die Fähigkeit, das Schöne selbst dann zu finden, wenn es sich nur andeutet.
Nachträge
Ursprung in China
Wie viele herbstliche Mondfeste Ostasiens hat auch das japanische Tsukimi seine Wurzeln in alten chinesischen Traditionen. Das chinesische Mondfest – Zhongqiujie – wird dort wie auch in Korea und Vietnam bis heute gefeiert.
Jede dieser Kulturen hat den Brauch auf eigene Weise weiterentwickelt, doch überall bleibt es ein Fest des Lichts, der Ernte und der stillen Betrachtung des Mondes.
„Lob des Schattens“
Übrigens: Auf dieses Thema bin ich überhaupt erst durch den kurzen Essay von Jun’ichirō Tanizaki, Lob des Schattens (1933), gestoßen. Das Büchlein gilt als eines der wichtigsten Texte der japanischen Ästhetik des 20. Jahrhunderts – gewissermaßen als Gegenentwurf zur modernen Lichtüberflutung.

„Als wir dann, ich und einige Freunde, mit Esskästchen ausgerüstet vom Land stießen, leuchteten rings um den Teich prunkvolle Lichtergirlanden in allen Farben. Und obwohl der Mond am Himmel stand, war es, als gäbe es ihn gar nicht …“
Nur – Hand aufs Herz: Wann hatten wir zuletzt überhaupt die Gelegenheit, den Mond und den wahren Mondgeist noch wirklich wahrzunehmen?
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Lies auch:
- Mondnacht (Gedicht mit Interpretation)
- Das Puppenfest in Japan – Hinamatsuri (雛祭り)
- Das Fest der Kirschblüte
- Die japanische Bütenkirsche
Quellen, Ergänzungen
[1] https://grokipedia.com/page/Tsukimi
[2] Tsukimi, auch Otsukimi (お月見 o-tsukimi), oder auch Jūgoya (十五夜 jūgo-ya, „15. Nacht“), https://de.wikipedia.org/wiki/Tsukimi
[3] Miscanthus sinensis, Sorte: ‚Verneigung‘, ein besonders elegantes Chinaschilf
[4] Bildquelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Mid-Autumn_Festival_19,_Chinatown, _Singapore,_Sep_06.JPG
[5] Jun’ichirō Tanizaki: Lob des Schattens · Entwurf einer Japansichen Ästhetik (Aus dem Japanischen übersetzt von Eduard Klopfenstein); Zürich 1987
🎑 [] [GJ.6.10] Gisela Jacob, 17.11.2025