Nicht die Forderungen sind der Skandal – Reden kann man über alles – es sind die manipulativen Methoden, mit denen sie lanciert werden.
Da ich mich auf meinem Inhortas-Blog auch mit Rentenpolitik beschäftige und von Zeit zu Zeit die aktuellen – meist dysfunktionalen – Rentenkonzepte der Bundesrepublik Deutschland dokumentiere, ist es wieder einmal an der Zeit.
In den letzten Tagen kam es zum kräftigen Rauschen im Medien-Blätterwald: Aussagen von Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) [1], im Spiegel-Interview [2]. Dass er dabei auch gleich ein neues Buch promotet (Nach uns die Zukunft) [3], haben die wenigsten bemerkt – vermutlich, weil man zwischen all den „Renten retten – aber wie?“-Schlagzeilen das Kleingedruckte übersieht.
Bemerkenswert ist jedoch weniger die ökonomische Substanz, sondern die rhetorische Strategie: Einerseits wird mit der Drohkulisse der „unsolidarischen Boomer“ eine künstliche Generationenfront aufgebaut – andererseits im gleichen Atemzug mehr gesellschaftlicher Zusammenhalt beschworen. Das Ergebnis: ein widersprüchliches Narrativ, das eher an gezielte Stimmungsmache als an seriöse Problemlösung erinnert.
Doch der Reihe nach.
Was war geschehen?
Fratzscher schlägt vor, Rentnerinnen und Rentner zu einem verpflichtenden sozialen Jahr heranzuziehen.
1️⃣ Grundidee: Die ältere Generation, vor allem die Babyboomer, müsse sich stärker engagieren, um Personalmangel in Pflege und Verteidigung zu lindern.
2️⃣ Hintergrund: Babyboomer hätten „zu wenige Kinder“ bekommen – während früher sechs Beitragszahler eine Rente finanzierten, seien es bald nur noch zwei.
3️⃣ Umsetzung: Einsatzmöglichkeiten im Sozialbereich oder bei der Bundeswehr; die „technischen Fähigkeiten“ vieler Rentner sollten genutzt werden.
4️⃣ Finanzen: Es soll ein Taschengeld geben – ähnlich wie bei einem Minijob.
Unterm Strich also: ein Pflichtjahr für Senioren.
Was im Medienrummel kaum beachtet wurde:
🔔 Das Interview fiel zufällig genau mit einer Buchveröffentlichung Fratzschers zusammen [3].
🔔 Parallel kursiert aus dem DIW schon länger die Idee eines „Boomer-Solis“: einer Sonderabgabe auf Alterseinkünfte der besserverdienenden Rentner [4].
Analyse der Manipulationstechniken
🚨 Was mir hier allerdings auffällt, ist nicht der Inhalt – geistreich ist daran wenig – doch auffällig ist die inflationäre Anwendung manipulativer Kommunikationstechniken:
1. Framing („Gerechtigkeit“)
– Verbalisiert als fairer Ausgleich: Wenn Junge müssen, sollen Alte auch. Wer widerspricht, wirkt unsolidarisch.
2. Scapegoating (Sündenbock-Strategie)
– Schuld an der Rentenkrise seien die Babyboomer mit zu wenig Kindern. Politische Fehler und Systemversagen verschwinden elegant aus dem Bild.
3. Agenda Setting
– Statt über strukturelle Lösungen (Steuersystem, Migration, Arbeitsmarkt, Automatisierung) zu reden, wird die Debatte auf „Generationenpflicht“ verschoben.
4. Fear Appeal (Angst-Appell)
– Schlagworte wie „Pflegenotstand“ oder „Überlastung der Rentenkassen“ sollen Dringlichkeit erzeugen.
5. Skandalisierung als Marketing
– Provokative These → mediale Empörung → Aufmerksamkeit → Buchabsatz. Politische Umsetzbarkeit? Nebensache.
(der Punkt 5. Entspricht im sogenannten Overton-Fenster der ersten Stufe, das „Undenkbare“ auszusprechen [5])
Fazit
Das „Pflichtjahr für Rentner“ wirkt weniger wie ein ernsthafter Plan, sondern wie ein kommunikativer Coup. Genutzt werden Framing, Sündenbock-Strategie, Agenda Setting, Angst-Appelle – also das volle Manipulationsbesteck. Ergebnis: Statt Sachfragen erleben wir eine emotionalisierte Generationen-Konfrontation.
Ich erwähnte oben einige „teils recht abartige“ Techniken – und allein die Fülle der eingesetzten Mittel bestätigt das. Man könnte fast meinen, John P. Kotters „8-Stufen-Modell des Wandels“ ließe sich hier nachzeichnen: von „Dringlichkeit erzeugen“ über „Vision entwickeln“ bis zur kulturellen Normalisierung von Pflichtdiensten oder eben von ihren „Ersatzzahlungen“ in Form von Steuern. Aber das hebe ich mir für ein andermal auf. Im Moment erklärt auch das Overton-Fenster-Modell diese Strategie [5] übergeordnet recht gut.
Lösung der Rentenproblematik?
Zum Schluss ein Blick über den Tellerrand:
🤔 Warum ist es in Dänemark [6a] möglich, dass in ihrem simpel vereinfachten „Generationenvertrag“ die staatliche Rente hundertprozentig aus Steuermitteln finanziert wird (Folkepension) – ohne separate Beiträge?
➡️ Zum dänischen Rentenmodell schrieb ich hier →
🤔 Warum ist es im Königreich Dänemark möglich, dass jeder, der dort lange genug im Land lebt, eine Grundrente von rund 2.000 Euro bekommt? Verpflichtende Betriebsrenten gibt es extra.
🤔 Und: Deutschland gilt als eines der reichsten Länder der Welt und ist nach aktuellen Daten die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Warum sollten wir nicht diese einfache Lösung der Dänen übernehmen? Was hindert uns daran? Meine Vorschläge dazu [6b]: Das Inhortas-Rentenmodell
„Alles Göttliche ist einfach“ (Johann Christoph Blumhardt)
Quellen und Ergänzungen
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Marcel_Fratzscher
[2] Quelle: jmm/hba/dpa; spiegel.de; „Generationengerechtigkeit / Idee für soziales Pflichtjahr für Rentner stößt auf Kritik / Rentnerinnen und Rentner sollten ein soziales Pflichtjahr absolvieren, meint Marcel Fratzscher im SPIEGEL. Kritiker werfen dem Ökonomen Respektlosigkeit vor. Er ist mit seiner Forderung nicht allein.“; 22.08.2025
[3] FRATZSCHER, Marcel; „Nach uns die Zukunft · Ein neuer Generationenvertrag für Freiheit, Sicherheit und Chancen“ (jetzt schon nominiert für den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis 2025!?); Veröffentlichung am 29.8.2025 geplant
„Der Generationenvertrag unserer Gesellschaft ist gebrochen. […] 84 Prozent aller Menschen in Deutschland sind überzeugt, dass es künftigen Generationen schlechter gehen wird als ihren Eltern. […] Marcel Fratzscher plädiert für einen neuen Generationenvertrag mit konkreten Rechten und Pflichten – vor allem für die Generation der Babyboomer…“ Quelle: PIPER-Verlag 4/25
[4] Pressemitteilung; diw.de; „Boomer-Soli“ kann deutsches Rentensystem stabilisieren; 16.7.2025 (Warnung! Eine Pressemitteilung in grauenvollem Gender-Deutsch)
[5] JACOB, Thomas; inhortas.de; Das Overton-Fenster erklärt – Wie gesellschaftliche Meinung durch das Licht auf der Bühne gelenkt wird; 27.7.2025
[6a] Neben Dänemark gibt es die steuerlich finanzierte staatliche Rente auch in:
- Dänemark (Folkepension) [+ beitragsbasierte Zusatzrente (ATP)]
- Neuseeland (New Zealand Superannuation)
- Australien (Age Pension)
- Kanada, steuerfinanzierte Grundrente (Old Age Security, OAS) [+beitragsfinanzierte Erwerbsrente (Canada Pension Plan, CPP/QPP)]
- Finnland, steuerfinanzierte Grundrente (Kansaneläke) [+erwerbsbasierte Rente (Työeläke)]
Die staatlichen Renten dieser Länder werden aus Steuermitteln finanziert. Dafür werden keine spezifischen Rentenbeiträge erhoben.
- Schweiz, sie hat ebenfalls ein interessantes steuer-ählich finanziertes Rentensystem (ohne Beitragsbemessungsgrenze), welches ich hier am Beitragsende erwähnte →
[6b] Übrigens: Ergänzend zur staatlichen Rente haben die USA wohl das beste ergänzende simpel-einfache, betrieblich-private Rentenmodell … „Die vererbbare Altersrente“. Als PDF. (T. Jacob 2023) Da geht es um das einfache System steuerbegünstigter Vorsorgekonten (401k/IRA etc.), die individuell, vererbbar und kostengünstig sind. Mehr dazu hier.
➡️ Kombiniert man das dänische Konzept mit dem US-amerikanischen, hätten wir „nach uns eine geordente Zukunft“ – denn das Chaos herrscht jetzt.
P.S.: Lasst doch mal eine KI das optimale Rentensystem herausfinden – oder zumindest meine Vorschläge prüfen!
Die Ausrede „Das ist alles zu kompliziert“ möchte ich nicht mehr hören.