Übersicht: Grabstock Hacke und Pflug
◾Wenn ich ältere Publikationen studiere [1], etwa die von Prof. Dr. Emil Werth (1869–1958), der eine äußerst spannende Hypothese über die Entstehung und Verbreitung des pflügenden Landbaus aufstellte, fällt mir immer wieder folgendes auf.
Neben eigener experimenteller Archäologie (gärtnerische Anbauverfahren, Germanen-Lauch) betreibe ich auch journalistische Recherchen. Bei diesen erlaube ich mir auch den akademischen Betrieb selbst unter die Lupe zu nehmen. Folgendes ist dann der Fall.
Der wissenschaftlichen Diskurs
Bei meinen Recherchen stoße ich naturgemäß auf Quellen und Arbeiten der Forscher, Historiker und Archäologen, die zunächst auch maßgebend für unseren heutigen Wissensstand in Bezug auf Geschichte und Vorgeschichte sind. Und natürlich gibt es innerhalb der verschiedensten Forschergemeinschaften Kritiker, die die Thesen und Hypothesen der Wissenschaftler in Frage stellen oder widerlegen. Und auch innerhalb des mehr abgegrenzten akademischen Betriebes wird das so gemacht, was völlig normal ist, denn dieser Austausch ist Teil des normalen wissenschaftlichen Diskurs.
Manchmal geht der Diskurs ins Niemandsland
Was ich jedoch zunehmend beobachte, ist, dass die verschiedenen Zweige der Geschichts- und Archäowissenschaften oft nur scheinbar im Widerspruch zueinander stehen. Das liegt häufig daran, dass sich die einzelnen Disziplinen durch ihre notwendige Spezialisierung immer mehr voneinander entfernen – oder dass neue Forschungszweige alternative Perspektiven ermöglichen. Das bedingt allerdings auch, das manchmal frühere Erkenntnisse völlig aus unserem Blickfeld geraten oder nach unserer heutigen Sichtweise überholt scheinen. Diese unterschiedlichen und neuen Sichtweisen werden schnell als widersprüchlich wahrgenommen, obwohl sie in Wirklichkeit ergänzend sind.
Neue Blickrichtungen
Ein gutes Beispiel hierfür ist die moderne Archäogenetik, die ganz neue Einblicke in vergangene Gesellschaften bietet, im Vergleich zur klassischen Arbeit eines Archäologen, der Keramikfunde analysiert, oder eines Lithik-Archäologen, der Steinwerkzeuge untersucht und sie kulturgeschichtlich einordnet. Beide Bereiche – die Analyse von Keramik und Steinwerkzeugen – gehören zu den ältesten und grundlegendsten Spezialisierungen innerhalb der Archäowissenschaften.
Die Herangehensweise von Prof. Dr. Emil Werth
Wenn ich nun die Publikationen von Prof. Dr. Emil Werth (1869–1958) und seine Hypothesen beurteilen darf, so stützen sich diese Arbeiten noch stark auf die klassische Ausgrabungsarchäologie.
Er verband sie allerdings sehr intensiv mit der damals prosperierenden Völkerkunde [2]. Die wiederum, hatte noch in den 1940er Jahren undenkbar viel zu tun [3], da sie zu seiner Zeit überall auf der Welt noch Volksgruppen studieren konnte, die von der „Zivilisation“ unberührt und in verschiedensten Kulturstufen stehend, vorzufinden waren. Und diese Studien waren seinerzeit allgegenwärtig bekannt, denn dieser Wissenschaftszweig, der heut völlig aus dem Focus geraten scheint, stand zu Prof. Werths Schaffenszeit noch in höchstem Ansehen. Wer weiß heute noch etwas von der Entdeckung hunderttausender „Gebirgs-Steinzeitmenschen“ (in den 1930ern), die Gartenbau betrieben??? [3].
Gärten im Hochland von Papua. Siehe [3]. |
Methodik- und Analyse-Cluster
Klassische Archäologie und Völkerkunde
WERTH entwickelte nun aus diesem „Methodik-Cluster“ traditioneller Archäologie und Völkerkunde wiederum Komponenten – ich nenne es Analyse-Cluster – zur Analyse agrar-kultureller Strömungen in der Menschheitsgeschichte. Ganz konkret habe ich kürzlich einen Analyse-Katalog für die tropische Hackbau-Kultur (nach WERTH) hier im Blog publiziert, wo wir uns diese Form wissenschaftlicher Arbeit anschauen können.
Heute haben Wissenschaftler in der Regel andere Ausgangspositionen, bei denen die Völkerkunde fast gar keine Rolle mehr spielt. Dafür sind aber andere, ebenfalls hochinteressante Wissenschaftszweige an deren Stelle getreten.
Pollenanalyse und experimenteller Archäologie
In der bisher leider hier noch nicht genügend vorgestellten Publikation (ich hole es nach) von Manfred Rösch „Vom Korn der frühen Jahre. Sieben Jahrtausende Ackerbau und Kulturlandschaft. (Begleitheft zur Ausstellung des Landesamtes für Denkmalpflege, Esslingen 2008) [4] finden wir beispielsweise vorzugsweise den „Methodik-Cluster“ der archäologischen Pollenanalyse (Palynologie) und experimenteller Archäologie (Hackwald-Wirtschaft am Forchtenberg). Mit den Pollenanalysen in Mooren oder Sedimenten kann man ziemlich exakt ökologische und klimatische Bedingungen vergangener Zeiten rekonstruieren. Wir wissen damit, ob unsere Vorfahren in Steppen oder Wäldern lebten und aus welchen Baumarten die jeweiligen Wälder bestanden. Auch finden sich bisweilen Pollen von Kulturpflanzen in diesen Schichten, welche das Wissen über unsere Vergangenheit bedeutend vervollständigen.
Klassische Archäologie und Archäogenetik
Durchaus als als Bahnbrechend können wir heute die Archäogenetik bezeichnen. Archäogenetiker arbeiten mit genetischen Proben, die vor allem Aufschluss über Wanderungsbewegungen und Bevölkerungsentwicklungen geben. So wissen wir heute beispielsweise, dass die neolithischen Bauern aus Anatolien, deren Wanderungsbewegung später bis nach Nordeuropa reichte, komplett ihre Nutztiere wie Rind, Schwein, Ziege, Schaf usw. aus dem Süden mitbrachten, und dass nicht etwa hier bei uns das Wildschwein domestiziert wurde. Selbst die verwilderten Schweine auf der Insel Korsika, sind keine klassischen europäischen Wildschweine (Sus scrofa) , sondern gehören zu einer Linie, die aus den Tropen Südostasiens stammt (Sus scrofa domesticus) [was uns wieder zu WERTHs Hypothese führt, dass die Landwirtschaft in Südostasien ihren Anfang nahm]
Die Verbindung von Klassische Archäologie und Archäogenetik sehe ich wiederum als ein „Methodik-Cluster„.
Ostasien vor 9000 Jahren. Von dort stammen unsere Hausschweine. Symbolbild. |
Für sich allein steht die klassische Geschichtsforschung
Erwähnen muss ich in diesem Zusammenhang aber auch noch den Wissenschaftszweig, aus dem sich das Geäst der Archäologie überhaupt erst entwickelt hat. Das ist die Erforschung der verfügbaren schriftlichen historischen Quellen, also die Die Geschichtswissenschaft (Historik). Hier kommt es nicht selten vor, dass der Laie Geschichtswissenschaft und Archäologie manchmal in einen Topf wirft, was zu Missverständnissen führen kann. Auch dem Bildungsbürger geschieht das hin und wieder und selbst dem Akademiker. Das möchte ich nur anmerken.
Ich für meinen Teil halte sehr viel auf die Forschungen und Publikationen der Historiker des 18. und 19. Jahrhunderts, welche im höchsten Maße Experten der alten Sprachen waren (Latein, Altgriechisch, Hebräisch, Persisch usw.). Sie waren noch wenig von den erst sehr langsam aufkommenden archäologischen Wissenschaften abgelenkt und widmeten sich deshalb, vielleicht ein wenig akribischer als heute ihren Forschungen.
Prof. Felix Anderegg (1834–1911)
Ich erwähnte diese Zusammenhänge in meinem Blog-Artikel vom 6.6.2024 über Prof. Felix Anderegg (1834–1911), der einen wunderschönen kurzen, aber informativen geschichtlichen Überblick über die Entwicklung des Gemüsebaues verfasste [5].
Werke und Tage von Hesiod
Hier im Blog noch nicht vorgestellt, besitze ich eine hochinteressante Übersetzung von Hartmann, Johann David Hartmann und Ludwig Wachler mit dem Titel „Hesiods moralische und ökonomische Vorschriften“ (Lemgo 1791) [6].
Eine im Bildungsbürgertum kaum bekannte Tatsache ist, dass das älteste literarische Werk der griechischen Antike “Werke und Tage”, welches eindeutig einem lebenden Verfasser zugeordnet werden
kann, eine Art Landwirtschafts-Almanach darstellt (Der Verfasser Hesiod, 8. Jahrh. vor Chr., war nicht nur Dichter und Denker, sondern auch Besitzer eines Landgutes).
Erwähnenswert ist, dass die Übersetzer HARTMANN und WALCHER im von Hesiod beschriebenen Brauchtum der Griechen Parallelen zum Brauchtum der Hebräer bemerkten. Auf jeden Fall werde ich darauf noch zurückkommen…
Fazit
Aber, wie dem auch sei. Diese verschiedene Zweige der Altertumswissenschaften, sei es nun die Geschichtswissenschaft in ihrer monochromen Form oder Archäologie im Spektrum ihrer technischen Analyse-Cluster – sie liefern Ergebnisse, die auf den ersten Blick nicht immer miteinander schlüssig sind. Verschiedene Forschergruppen ziehen aber nur deshalb unterschiedliche Schlüsse, weil sie ihre Daten aus verschiedenen methodischen Perspektiven interpretieren.
Die Frage ist also nicht, welche Methode die „richtige“ ist, sondern wie man diese verschiedenen wissenschaftlichen „Cluster“ miteinander verbindet, um ein umfassenderes Bild zu erhalten. Aber vielleicht müssen wir auch nicht unbedingt immer alles miteinander verbinden müssen. Es darf auch mal ein Denkmodell für sich allein stehen bleiben.
Es ist doch eher faszinierend zu sehen, wie diese verschiedenen Schwerpunkte und Komponenten wissenschaftlicher Methoden – von der klassischen Archäologie über die Ethnologie bis hin zu modernen Techniken wie der Archäogenetik oder Pollenanalyse – jeweils ihre eigenen Denkmöglichkeiten eröffnen. Sie liefern unterschiedliche Bausteine, die uns helfen, die Vergangenheit zu entschlüsseln, und je nachdem, welche Methoden man anwendet, können sich daraus unterschiedliche Interpretationen entwickeln.
Quellen und weitere Erläuterungen
Bildquellen:
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:20170904_Papouasie_Baliem_valley_8.jpg
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:ISS034-E-5542_-_View_of_Papua_New_Guinea.jpg
[1] Ich beschäftige mich nun schon seit einiger Zeit, außerhalb des akademischen Betriebes, intensiv mit der Geschichte und Vorgeschichte unserer Landwirtschaft und des Gartenbaus.
[2] Die Völkerkundler (Ethnologen) erlebte ihre Blütezeit besonders zwischen dem 19. und frühen 20. Jahrhundert, also ungefähr zwischen 1840 und 1950. Diese Phase war stark geprägt durch das europäische Kolonialzeitalter, die Erschließung neuer Gebiete und das Interesse an den Kulturen nicht-westlicher Gesellschaften.
In dieser Zeit entstanden viele bedeutende ethnologische Werke, und Forscher reisten in entlegene Teile der Welt, um dortige Lebensweisen zu dokumentieren. Insbesondere im späten 19. Jahrhundert wuchs das Interesse an systematischen wissenschaftlichen Methoden zur Untersuchung von Gesellschaften, was zur Gründung von ethnologischen und anthropologischen Instituten führte. Die Völkerkunde dieser Zeit stand allerdings oft auch in engem Zusammenhang mit der Kolonialverwaltung, was später auch kritisiert wurde.
Zu den bekanntesten Ethnologen dieser Epoche gehören Bronisław Malinowski, Franz Boas, Edward Burnett Tylor und viele andere mehr.
[3] So wurde erst in den 1930er Jahren das Hochland von Papua-Neuguinea und seine Einwohner entdeckt, genauer gesagt zwischen 1933 und 1935. Die Entdeckung wird oft den australischen Goldsuchern Michael Leahy und Mick Dwyer zugeschrieben, die in das damals völlig unbekannte und als unbewohnt geltende Landesinnere vordrangen. Sie stießen auf dichte Populationen von Hochlandbewohnern, die bis dahin keinerlei Kontakt mit der westlichen Welt gehabt hatten. Diese Entdeckung war eine Sensation, da man zuvor nicht wusste, dass im Hochland hunderttausende Menschen auf neolithischer Kulturstufe lebten, die eine eigene landwirtschaftlich-gartenbauliche Hackbaukultur entwickelt hatten.
Das Hochland von Papua-Neuguinea. Auf 2000 Meter Höhe und schneebedeckten Bergen unter dem Äquator. In den 1930ern entdeckt und vorgefunden: dicht besiedelt, wie die Schweiz. Und Menschen mit hoher Agrarkultur, welche ihre Felder mit Hacke und Grabstock bearbeiten. |
[4] RÖSCH, Manfred; Vom Korn der frühen Jahre Sieben Jahrtausende Ackerbau und Kulturlandschaft (Begleitheft zur Ausstellung des Landesamtes für Denkmalpflege); Esslingen 2008;
Hier zum PDF: https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/nbdpfbw/article/view/11659/5512
(das PDF wird direkt heruntergeladen und nicht geöffnet)
[5] ANDEREGG, Prof. Felix; Der Gemüsebau im Hausgarten und im freien Felde, nach den neuesten Grundsätzen der Wissenschaft; Zürich, 1880; Seiten 10 bis 12
https://books.google.de/books?id=Uchnsoklx2gC&dq=ANDEREGG
[6] HARTMANN, Johann David und WALCHER, Ludwig; Hesiods moralische und ökonomische Vorschriften; Lemgo 1791