Bild: Reformhaus und Reformware. Ein in sich stimmiges Konzept mit stimmiger Begrifflichkeit.
Ein satirischer Einstieg
Als ich kürzlich über die aktuellen Rentenreformen in Deutschland schrieb, regte ich mich innerlich ein wenig auf. Nicht so sehr über die gewohnt stagnierenden und dysfunktionalen Reparaturversuche an unserem Rentensystem – und Politik überhaupt – sondern vielmehr über den Begriff „Reform“ an sich. Besonders in der Politik wird dieser nicht nur inflationär verwendet, sondern auch konsequent falsch:
Reform, vom Lateinischen reformare abgeleitet, bedeutet die Rückbesinnung oder Wiederherstellung einer idealen oder ursprünglichen Form. Aber diese angeblich ideale Ur-Form ist doch niemals vorhanden gewesen!?. Nun gut, es wäre wohl zu viel verlangt, von Politikerinnen und Politikern irgendein besonderes Nebenwissen zu erwarten – schließlich ist ihre Kernkompetenz oft schon herausfordernd genug. Amüsant ist dabei nur, dass sie mit ihrer gedankenlosen Verwendung des Begriffs unfreiwillig eine Art spät-römische Dekadenz voraussetzen, als sei die Gesellschaft bereits im Zustand des Zerfalls, den es zu korrigieren gilt.
Man erinnere sich: Der römische Politiker Cicero war einer der Ersten, der Begriffe wie forma und reformatio in moralphilosophischen Kontexten verwendete. Er betonte die Notwendigkeit, die mos maiorum (die Sitten der Vorfahren) wiederherzustellen [1], um den moralischen und gesellschaftlichen Verfall Roms aufzuhalten [2]. Wie ironisch also, dass unsere modernen „Reformen“ kaum etwas mit dieser ursprünglichen Bedeutung gemein haben.

Der Ursprung und Bedeutungswandel von „Reform“
Das lateinische reformare bedeutet wörtlich „wieder in Form bringen“ oder „in die ursprüngliche Form zurückversetzen“. Es setzt sich aus re- (zurück, wieder) und formare (formen, gestalten) zusammen. Ursprünglich stand der Begriff für eine Rückbesinnung auf ein ideales oder ursprüngliches Konzept. In der Antike und im Mittelalter wurde er oft in einem religiösen Kontext verwendet, etwa bei der „Reform der Kirche“, die darauf abzielte, diese wieder in ihren reinen, ursprünglichen Zustand zu versetzen. In diesem Sinne war der Gebrauch des Begriffs absolut korrekt, da man das Ur-Christentum idealisiert im Blick hatte.
Doch im modernen Sprachgebrauch hat „Reform“ einen Bedeutungswandel durchlaufen. Heute steht der Begriff weniger für die Rückkehr zu einer ursprünglichen Form, sondern eher für Veränderung, Umgestaltung oder „Verbesserung“ (meist nur eine Verschlimmbesserung) des Bestehenden – oft eine Anpassung an neue Gegebenheiten, die nicht immer mit den ursprünglichen Idealen übereinstimmt. Als Reformer schmückt man sich demzufolge mit fremden Federn, da man halt nur ein Verbesserungskosmetiker ist…
Korrekte Verwendung: Reformhaus und Reformware
Im Gegensatz zu den oft missverständlichen politischen Reformen werden Begriffe wie Reformhaus oder Reformware korrekt genutzt. Hier steht der Gedanke einer Rückkehr zu einem „natürlichen“ oder „ursprünglichen“ Zustand im Vordergrund, besonders in Hinblick auf Gesundheit, Ernährung und Lebensweise.
Der Begriff Reformhaus geht auf die Lebensreformbewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurück. Diese Bewegung setzte sich bewusst von der Industrialisierung und den einhergehenden Veränderungen, insbesondere in der Lebensmittelproduktion, ab. Ziel war es, eine gesündere, bewusstere und natürlichere Lebensweise zu fördern. Die Idee: Produkte anzubieten, die weniger verarbeitet und somit näher an einem ursprünglichen Ideal sind.
Auch die Reformware greift diesen Gedanken auf. Sie umfasst Lebensmittel und Produkte, die Gesundheit fördern und schädliche Einflüsse industrieller Verfahren vermeiden sollen – etwa durch den Verzicht auf chemische Zusatzstoffe oder Pestizide. Diese Begriffe greifen die ursprüngliche Bedeutung von reformare – „wieder in die richtige Form bringen“ – auf und wenden sie treffend an. Damit stehen sie in einem deutlichen Gegensatz zu politischen oder wirtschaftlichen „Reformen“, die selten eine Rückkehr zu Idealen anstreben.
Reformgartenbau – eine persönliche Betrachtung
Ich frage mich immer wieder, welcher Form der Gartenbaukultur ich tatsächlich zuneige. Nach über 15 Jahren, in denen ich mich mal der einen, mal der anderen alternativen Anbaumethode verschrieben habe, komme ich zu der Erkenntnis, dass ich mich mit keiner dieser Philosophien vollends identifizieren kann.
Auch der modern-konventionelle Anbau findet in meinem Garten keinen Platz. Stattdessen kultiviere ich mein Gemüse auf eine Weise, die den Praktiken der Gartenbaubetriebe vor etwa 150 Jahren entspricht – jener Zeit, bevor die Agrochemie Einzug hielt.
Abgesehen von Pferdemist (den „Industrieabfällen“ aus der Transport- und Verkehrswirtschaft jener Epoche) sowie etwas Gartenkalk gab es damals keine zusätzlichen Verbrauchsstoffe. Die Böden wurden umgegraben, geholländert und rigolt (das bedeutet eine übertiefe Bodenlockerung). Man arbeitete mit Glashäusern und wärmte Frühbeete – die sogenannten Mistbeete – durch die Wärmeentwicklung von Pferdemist. Es war eine Zeit, in der sämtliche Arbeit von Hand erledigt wurde, hohe Erträge jedoch dennoch unabdingbar waren [3]. Die angewandten Methoden folgten einer ursprünglichen Logik, die wir heute oft unter dem Schlagwort „nachhaltig“ subsumieren würden.
Doch genau diesen Begriff, nachhaltig, meide ich mittlerweile, wo immer es möglich ist, da er durch ideologische Überfrachtung an Klarheit verloren hat. Unverbrauchter und ebenso treffend wäre das Wort Reformgartenbau. Und so frage ich mich: Warum verwende ich diesen Begriff eigentlich nicht?

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[1] Dafür wäre ich ja auch…
[2] Es geht hier um den Verfall der römischen Republik, nicht um die spät-römische Dekadenz. Heute allerdings … haben wir beides.
[3] Hochleistungs-Gartenbau: Zum Beispiel die Pariser Marktgärtner, welche die Großstadtbevölkerung versorgten; Belgische Gärtner, die England (London) belieferten usw.