🌞 Sommersonnenwende
Nun die Sonne soll vollenden
Ihre längste, schönste Bahn,
Wie sie zögert, sich zu wenden
Nach dem stillen Ozean!
Ihrer Göttin Jugendneige
FĂĽhlt die ahnende Natur,
Und mir dĂĽnkt, bedeutsam schweige
Rings die abendliche Flur.
Nur die Wachtel, die sonst immer
Frühe schmälend weckt den Tag,
Schlägt dem überwachten Schimmer
Jetzt noch einen Weckeschlag;
Und die Lerche steigt im Singen
Hochauf aus dem duft’gen Tal,
Einen Blick noch zu erschwingen
In den schon versunknen Strahl.
Sommersonnenwende, von Ludwig Uhland (1834)
Â
Gedichtinterpretation – Die spirituelle Bedeutung der Mittsommerzeit
Die Symbolik der Wachtel in Ludwig Uhlands Gedicht
Der deutsche Dichter und Literaturwissenschaftler – aber auch Jurist und Politiker – Ludwig Uhland (1787-1862) beschreibt hier die Sommersonnenwende, also den Tag, an dem die Sonne ihre längste Strecke am Himmel zurĂĽcklegt. Dies ist ein Moment des Ăśberflusses an Licht, an voller Schönheit und an Vollendung. Es folgt darauf der Vers: „Wie sie zögert, sich zu wenden … Nach dem stillen Ozean!“
Das heiĂźt: Die Sonne scheint zu zögern, als wĂĽrde sie ungern ihre Reise beenden und sich zur Ruhe setzen. Der „stille Ozean“ symbolisiert das Ende des Tages und metaphorisch das Ende eines Lebens- oder Zeitzyklus. In diesen Urozean wandert das Licht gewöhnlich, um am Morgen wiedergeboren zu werden.
„Ihrer Göttin Jugendneige … FĂĽhlt die ahnende Natur“ … Die Natur – die hier als jugendliche Göttin ein Verblassen fĂĽhlt und ahnt – geht ihren Weg weiter, da sie heute die Wirklichkeit nicht einholen kann und gleichzeitig auch das Ewige ahnt.
Die abendliche Landschaft ist hell und bedeutungsvoll still. Diese Stille lässt Raum für Besinnung und Kontemplation. Denn das Fühlen einer Veränderung mag das Eine sein, den Augenblick zu genießen, ist das Andere. Doch sie spürt jetzt auch das unvergängliche Licht in sich selbst, jetzt in diesem Moment – sonst wäre sie nicht göttlich [1].
Stunden der Unzeit
„Nur die Wachtel, die sonst immer … FrĂĽhe schmälend weckt den Tag“ Die Wachtel, die normalerweise den Tag frĂĽh und lautstark beginnt und offenbar schon vor der Zeit ihren Weckruf hören lässt, mag ein Symbol dafĂĽr sein, dass wir uns heute zur Mittsommernacht in einer “Unzeit” befinden. Zeitlosigkeit wäre in diesem Falle ein falscher Begriff fĂĽr die Sonnenwend-Licht-Nacht. Die Vergangenheit greift nach der Zukunft und die Zukunft nach der Vergangenheit. Zeit-Verschränkung wäre wohl ein moderner Begriff fĂĽr dieses uralte Fest, welches mit den Sonnenwendfeuern gefeiert wird. Es verbindet die geistige Welt unserer Ahnen mit unserer Wirklichkeit – obwohl in dieser licht-heiligen Nacht Wirklichkeit vermutlich gar nicht stattfindet…
Nach-Gedanken
Bildrechte, Beitragsbild oben: MeditativeKaleidoscope
https://pixabay.com/de/illustrations/blume-feld-natur-landschaft-wiese-8762030/
[1] Vermutlich symbolisiert bei Uhland die jugendliche Göttin die Seele des Menschen, als Teil der Mutter Natur.
GlĂĽhwĂĽrmchen-Zeit
Zur Verzauberung der Sonnenwend-Nächte tragen natürlich auch die Glühwürmchen ihren Teil bei. In den lichtvollen Nächten tragen sie zusätzlich ihr mattes Natur-Licht in die Zeit und bereichern auch hier noch den Überfluss, den uns nun Garten und Natur bieten. Die Mittsommerzeit ist auch ein Fest des Überflusses, der uns die Natur bietet. Es ist von allem genug für alle da. Es sei denn – der Überfluss wird verschwendet oder künstlich verknappt.
[TJ.24.1]