HERZKA, Theodor; Freiland – Ein soziales Zukunftsbild; Dresden und Leipzig, 1890 [Symbolbild]
Online einsehbar: https://books.google.de/books?id=eUP1DwAAQBAJ
Beachte: Namensgleich, aber unabhängig voneienander: Yella Hertzkas Gartenbauschule (1912).
Hier stelle ich einen Titel aus meiner kleinen Gartenbibliothek vor, der durchaus recht nützlich ist, die politischen Bewegungen in den deutschsprachigen Ländern Anfang des 20. Jahrhunderts zu verstehen und zu bewerten.

Theodor Hertzka: Der Architekt einer Sozialutopie
Theodor Hertzka (1845–1924), ein österreichischer Ökonom und Schriftsteller, verkörperte den Geist seiner Zeit, geprägt von virulenten sozialistischen und utopischen Gedanken. Mit seinem 1890 erschienenen Werk „Freiland – Ein soziales Zukunftsbild“ legte er nicht nur eine visionäre Sozialutopie vor, sondern zugleich einen detaillierten Entwurf einer Gesellschaft, die auf fundamentalen Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und individueller Selbstverwirklichung fußt.
Die Publikation entfaltete bei ihrem Erscheinen eine bemerkenswerte Wirkung. Sie befeuerte intellektuelle Debatten und inspirierte zahlreiche Sozialreformer, die aufkommenden Freiwirtschaftsbewegungen und eine Reihe genossenschaftlicher Projekte – die alle vor der Mammutaufgabe standen, diese umfassende Theorie in die Praxis zu überführen.

Hertzka selbst wagte den ultimativen Versuch: Er plante die physische Manifestation seiner Utopie, eine Kolonie in Ostafrika. Ein Vorhaben, das die Welt verändern sollte, jedoch nie über die „erste Konzeptionsphase“ hinauskam. Hier offenbart sich bereits die erste zentrale Lehre für jeden Enthusiasten: Zwischen dem utopischen Entwurf und seiner realen, globalen Umsetzung liegt oft ein komplexes, kaum zu überwindendes Terrain.
Von der universellen Theorie zur überschaubaren Wirklichkeit: Die Freiland-Bewegung scheitert an der Skalierung
Obwohl Hertzkas afrikanische Gründung unrealisiert blieb, fand seine „Freiland“-Philosophie ein starkes Echo in Europa. Doch die grandiosen Pläne für eine globale Transformation blieben größtenteils theoretisch. Die weltweit wohl einzige Kolonie, die sich explizit auf Hertzkas Vorstellungen berief und tatsächlich überlebte, war die Freiland-Kolonie Eden in Oranienburg bei Berlin.
Auch abseits direkter Gründungen stimulierten seine Ansätze eine breite intellektuelle Debatte und trugen zweifellos zur Entwicklung der sogenannten Gartenstädte bei, die einen pragmatischeren Weg zur Verbindung von Stadt und Natur aufzeigten – und damit eine „Alternative zur Alternative“ darstellten, indem sie die gigantische Vision auf ein realistisches Maß schrumpften.
In Wien wurde bereits 1893 ein „Freiland-Verein“ ins Leben gerufen, dessen erklärter Zweck die praktische Umsetzung der Freiland-Idee war. Doch trotz anfänglicher großer Begeisterung scheiterte die Realisierung konkreter Projekte primär an organisatorischen und finanziellen Hürden. Dies ist eine entscheidende Erkenntnis für jeden Praktiker: Selbst die visionärste Idee benötigt ein solides Fundament aus konkreter Struktur und handhabbaren Ressourcen, um nicht im reinen Idealismus zu versanden.
Freiland – Das Buch
Hertzkas „Freiland – Ein soziales Zukunftsbild“ ist stilistisch ein klassisches Beispiel der sozial-utopischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Es verbindet wissenschaftliche und philosophische Erörterungen mit erzählerischer Lebendigkeit. Doch hinter der erzählerischen Kulisse verbirgt sich ein präzises sozioökonomisches Gedankenexperiment. Die Wahl einer idealisierten, unbesiedelten und fruchtbaren Region Ostafrikas als Schauplatz diente als unbeschriebene Leinwand für eine Utopie, die von den rigiden europäischen Gesellschaftsstrukturen befreit sein sollte – ein Ansatz, der die Komplexität realer Gesellschaften unterschätzte.
Die Gesellschaft in „Freiland“: Prinzipien, die in der Praxis oft zu schrumpfen drohen
In dem Buch wird beschrieben, wie eine Gruppe idealistischer Siedler aufbricht um in Afrika eine neue Gesellschaft zu gründen, die auf Wohlstand und Freiheit für alle basiert. Jeder Bürger in Freiland hat dann das Recht auf einen Anteil am Boden und die natürlichen Ressourcen. Die Bewohner können frei wirtschaften und ihren Lebensunterhalt bestreiten, ohne die Prinzipien der gegenseitigen Unterstützung und Gleichheit zu verletzen. Der Aufbau dieser Kolonie ist dann von Hetzka weiterführend in siener Entwicklung beschrieben.
2. Kollektive Organisation und selbstverwaltete Gerechtigkeit
Die Gesellschaft wird durch freiwillige Kooperation und demokratische Prozesse organisiert. Es gibt keine staatliche Zwangsstruktur, sondern Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. Das Rechtssystem basiert auf Vereinbarungen, die von den Bürgern selbst geschaffen werden, wodurch eine gerechte und transparente Verwaltung angestrebt wird.
2. Technologischer Fortschritt und Bildung
Technologische Errungenschaften werden gefördert und sollen das Leben aller erleichtern. Bildung wird als Schlüssel zum Wohlstand und zum gesellschaftlichen Fortschritt gesehen, weshalb Wissen und wissenschaftlicher Fortschritt stark gefördert werden.
3. Friedliches Zusammenleben
Es gibt keine Soldaten oder Militär, da die Gesellschaft auf Frieden und Kooperation ausgelegt ist. Hertzka wollte zeigen, dass eine Gesellschaft, die auf Vernunft und gegenseitigem Respekt basiert, ohne Gewalt und Zwang bestehen kann.
Diese hochfliegenden Prinzipien, die im kleinen Rahmen einer Kolonie vorstellbar scheinen, zeigen sich in der Realität natürlich als immense Herausforderung für Skalierbarkeit und Komplexität.
Warum Afrika?
Afrika war für Hertzka der perfekte Ort für eine unberührte Gesellschaft, da er es als unerschlossen und fruchtbar beschrieb. Dies ermöglichte ihm, eine fiktive Welt zu entwerfen, in der europäische Probleme und Zwänge außen vor blieben, und Freiland wurde so zu einem Idealort für eine gesellschaftliche Neugründung.

Die Freiland-Kolonie Eden in Oranienburg: Der Tiger landet als Bettvorleger?
In Deutschland manifestierte sich Hertzkas Einfluss in der 1893 gegründeten Freiland-Kolonie Eden. Diese Siedlung ist das wohl einzige, tatsächlich überlebende und heute noch relevante Beispiel einer direkten Umsetzung der Freiland-Idee. Doch was aus dem universellen Traum vom „sozialen Zukunftsbild“ wurde, war eine Gemeinschaft, die sich auf sehr konkrete, handfeste Dinge konzentrierte:
Merkmale und Philosophie
Eden setzte auf Selbstversorgung, gesunde Ernährung und gemeinschaftliches Leben. Die Bewohner lebten in Genossenschaftshäusern, ausgerichtet auf ökologische und naturnahe Bewirtschaftung, wobei Vegetarismus und Naturheilkunde prägende Werte waren, die selbst in national-sozialistischer Zeit Vorbildwirkung zeigten [2]. Es war ein Streben nach einer ganzheitlichen Rückbesinnung auf die Natur, die für einige Bewohner auch eine unkonventionelle Freiheit des Körpers umfasste [4], getreu dem Motto „alles im Einklang mit der Natur“.
Die heute unter Denkmalschutz stehenden Häuser und Gärten sind Zeugnisse einer Bewegung, die ihre Ideale im Kleinen verwirklichte. Aus dem Anspruch, eine neue Welt zu schaffen, wurde das pragmatische Ziel, Obst und Gemüse anzubauen und Apfelsaft herzustellen. Der majestätische Tiger von Hertzkas Weltvision landete hier gewissermaßen in der Realität als Bettvorleger – doch selbst das ist besser als gar nichts.
Können wir trotzdem von dieser Utopie etwas lernen?
Hertzkas „Freiland“-Utopie und die Geschichte der Freiland-Bewegung lehren uns viel über die unvermeidliche Gratwanderung zwischen Idealismus und Pragmatismus. Sie zeigen, dass selbst die größten Visionen ein solides Fundament aus Finanzierung, Organisation und vor allem einer robusten Rechtsform benötigen, um nicht in der Abstraktion zu verpuffen.
Der Erfolg der Eden eG ist ein lebender Beweis dafür, dass diese Ideenwelt immerhin in der realisierbaren und adaptierbaren Umsetzung liegt.
Auch wenn, das Ergebnis – etwa im Vergleich zu den Projekten der Gartenstadtbewegung mager erscheint – so kam es zumindest in den 1920er und 1930er Jahren zu einem regen intelektuellen Gedankenausch von den verschiednesten sozialreformerischen Bewegungen. So etwa lebte der heute wohl noch bekannteste Protagonist dieser Strömungen, der Freiwirtschaftler Silvio Gesell (1862–1930) zeitweise in der Freilandsiedlung. Bekannt ist Sivio Gesell heute noch in den Kreisen der Geldsystem-Kritiker und zwar duch seine Schrift „Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld“, 1916 im Selbstverlag erschien (Freigeld, Freiland, Festwährung)[5].
Was ich jedoch für eine besodere Erungenschaft ansehe – in Bezg auf die Eden eG – ist die Idee der „Bodenreform“, die in der Eden-Obstbau-Siedlung Praktiziert wurde. Hier war es offensichtlich gängige Praxis, dass Mitglieder oder Förderer landwirtschaftlich nutzbare Flächen erwarben und diese nicht selbst bewirtschafteten, sondern an die Genossenschaft verpachteten.
Die Genossenschaft wiederum verpachtete das Land an Siedler zur kleinsiedlerischen Nutzung, insbesondere für Obst- und Gartenbau. Offensichtlich ging die Verpachtung an die Kleinsiedler wiederum so weit, dass es Erbpachten waren, die es den Siedlern wiederum ermöglichte, Kredite für den Bau ihrer Häuser zu erhalten. Im Zentrum stand dabei die Überzeugung – insbesondere durch Ideen von Adolf Damaschke (1865–1935) [6] befördert – dass Boden nicht als Ware gehandelt werden dürfe, sondern als Gemeingut zu behandeln sei. Die Eden-Siedlung versuchte, dieses Prinzip in der beschriebenen Weise umzusetzen.
Quellen und Erläuterungen
[1] HERZKA, Theodor; Freiland – Ein soziales Zukunftsbild; Dresden und Leipzig, 1890
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Eden_Gemeinn%C3%BCtzige_Obstbau-Siedlung
[3] https://eden-eg.de/ Die Eden eG (https://eden-eg.de/[2001]; https://eden-eg.de/[2025]) ist die heutige Genossenschaft, die aus der historischen Freiland-Kolonie Eden hervorgegangen ist, welche 1893 in Oranienburg gegründet wurde. Ursprünglich als sozialutopische Siedlung zur Förderung von Vegetarismus, Naturheilkunde und Selbstversorgung ins Leben gerufen, hat sich die Genossenschaft über die Jahrzehnte weiterentwickelt. Heute setzt sich die Eden eG weiterhin für naturnahes, nachhaltiges Leben ein und bietet ihren Mitgliedern Wohnraum, naturnahe Gärten und kulturelle Veranstaltungen an. Die historischen Gebäude und Gärten der Kolonie stehen unter Denkmalschutz und spiegeln die Ideale der Lebensreformbewegung wider, die bis heute die Philosophie der Genossenschaft prägen.
[4] Etwa zeitgleich mit Hetzkas Ideen poppte die Freikörperkultur (FKK), auch als Nudismus bezeichnet, in Deutschland und anderen Teilen Europas auf und hatte in den 1920er Jahren eine erste Blütezeit. Sie war eng verbunden mit der sogenannten Lebensreformbewegung, die eine Rückbesinnung auf ein naturnahes, gesundes Leben propagierte.
[5] Die Bezeichnung „Freigeld“ impliziert selbstverständlich die Feststellung, dass es damals (genau gesagt seit 1913) „unfreies“ Geld existierte, was bis heute der Fall ist. Denk darüber bitte weiter nach.
[6] Adolf Damaschke (1865–1935), Lebensreformer, Bodenreformer: https://de.wikipedia.org/wiki/Adolf_Damaschke
- https://papierania.de/homepage_auktion24/lose0500-0599.pdf
- https://www.wl-historische-wertpapiere.de/immobilienges-deutschland/brandenburg/dt-verein-freiland-e-v/