Die Frühlings-Tagundnachtgleiche: Ein vergessenes kosmisches Ritual?
Die Frühlings-Tagundnachtgleiche (heute 20.3.2025) markiert jenen seltenen Moment, in dem Tag und Nacht für kurze Zeit im perfekten Gleichgewicht stehen – je zwölf Stunden Licht und Dunkelheit. Astronomisch gesehen beginnt mit ihr der Frühling auf der Nordhalbkugel.
Doch während dieses Ereignis heute kaum Beachtung findet, war es für unsere Vorfahren von tiefgreifender Bedeutung. In den alten nordischen Kulturen spielte die Tagundnachtgleiche eine zentrale Rolle und eine noch bedeutendere in den in den vor-nordischen Megalithkulturen der Jungsteinzeit (ca. 5000–2000 v. Chr.).
Wendepunkt. Oder Harmonie im Jahreslauf?
In der vorchristlichen germanischen und nordischen Tradition war dieser Zeitpunkt mit Ritualen und Festen verbunden, die den Übergang vom Winter zum Frühling markierten.
Lange ging ich davon aus, dass diese Festrituale in erster Linie landwirtschaftliche Ursprünge hatten – doch das scheint nicht so eindeutig zu sein. Allein die klimatischen Gegebenheiten Skandinaviens sprechen dagegen: In Norwegen etwa kann der Winter bis in den April hinein dauern.
Neben dieser Feststellung ist aber auch klar, dass solche Fixpunkte im Jahreskreis ihren Ursprung in Völkerschaften haben müssen, welche entfernt vom Äquator (wo immer die Tagundnachtgleiche herrscht) lebten. Denn je entfernter man sich von dieser Linie aus befindet, um so signifikanter stellt sich dieses Ereignis dar.
Symbolik in nordischen Kulturen
Kosmischer Ausgleich und Fruchtbarkeit
Die Tagundnachtgleiche wurde als ein Moment verstanden, in dem sich die Ordnung der Natur offenbart – nicht als willkürliches Geschehen, sondern als Ausdruck eines übergeordneten, zyklischen Kosmos. Nichts geschieht zufällig, doch alles strebt nach Ausgleich.
In der nordischen Mythologie waren mit dem Frühling Gottheiten wie Freyja (Fruchtbarkeit, Liebe, Wachstum) und Freyr (Wetter, Ernte) verbunden. Das Gleichgewicht von Licht und Dunkelheit wurde als Zeichen für Harmonie und Erneuerung betrachtet.
Ostara oder das Frühjahrsblót?
Es wird durchaus vermutet, dass die Germanen ein Frühlingsfest feierten, das mit der Tagundnachtgleiche zusammenfiel – möglicherweise das von Beda Venerabilis [1] erwähnte Ostara-Fest, benannt nach der Göttin Ēostre. Die historischen Belege sind zwar spärlich, doch einige sehen darin eine pagane Wurzel des christlichen Osterfestes.
Wahrscheinlicher ist, dass ein Frühjahrsblót (Opferfest) abgehalten wurde, um die Götter um eine fruchtbare Ernte und Schutz der Felder zu bitten. Archäologische Funde – insbesondere Opfergaben in Mooren und Seen – stützen diese These.
Doch welche Rolle spielten diese Opfer wirklich? Oft werden sie mit einer „Götterreligion“ in Verbindung gebracht, doch ich sehe darin vielmehr ein vorreligiöses Konzept. Nicht ohne Grund habe ich mich jüngst mit den japanischen Opfer-Schreinen im Shintoismus beschäftigt – einer Tradition, die streng genommen gar keine Religion ist [2].
Meine These ist nun aber: Wenn wir diese Opfergaben als Ausdruck einer uralten, nicht-theistischen Naturverehrung verstehen, könnte dies auch einen neuen Zugang zu den germanischen Opferpraktiken eröffnen.

Parallelen zum japanischen Shintoismus
Auch im Shinto spielt die Frühlings-Tagundnachtgleiche eine Rolle, allerdings im Kontext von Naturverehrung und zyklischen Rhythmen. Meine These ist, dass der frühe germanische Glaube weitaus mehr mit dem Shintoismus gemein hatte, als gemeinhin angenommen wird.
Gern wird die germanische Spiritualität mit einer Religion verbunden. Ich verbinde sie eher (oder auch) mit einem kultivierten Naturglauben [3], so, wie wir ihn auf andere Weise kultiviert in Japan finden:
Higan-Zeit: Das Gleichgewicht zwischen Diesseits und Jenseits
Die Frühlings-Tagundnachtgleiche fällt in Japan in die Higan-Woche [4], eine siebentägige Periode, die sowohl im Frühjahr als auch im Herbst rund um die Äquinoktien begangen wird.
Obwohl Higan heute primär mit dem Buddhismus assoziiert wird (etwa durch Ahnenrituale), trägt es deutliche shintoistische Züge. Es geht um das harmonische Gleichgewicht zwischen Diesseits und Jenseits – eine Symbolik, die sich mit der Balance von Tag und Nacht am Äquinoktium (Tag-Nacht-Gleiche) erstaunlich gut deckt.
Natur und Kami
Die Frühlings-Tagundnachtgleiche wird im Shinto als Erwachen der Natur gefeiert. Viele Schreine (Jinja) führen Rituale durch, um die Kami des Wachstums und der Erneuerung zu ehren. Auch die Sonnengöttin Amaterasu könnte in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen, da ihr Licht im Frühling wieder an Kraft gewinnt. Eine einheitliche, für alle Schreine verbindliche Zeremonie existiert jedoch nicht – die Praxis variiert je nach Region.

Kosmisches Gleichgewicht
Der Moment, in dem Tag und Nacht gleich lang sind, wird im Shinto als Ausdruck von Harmonie betrachtet. Dieses Streben nach Balance ist ein Grundpfeiler der Weltanschauung, auch wenn es nicht explizit als „Frühlings-Äquinoktium-Ritus“ festgeschrieben ist.
Ein vergessenes Erbe?
Vor der Einführung des Buddhismus im 6. Jahrhundert war der proto-shintoistische Glaube stark animistisch geprägt und an Naturereignisse gebunden [5]. Die Äquinoktien könnten als kosmische Wendepunkte verstanden worden sein – ähnlich wie in den nordischen Kulturen. Doch mit der Zeit wurden diese Bräuche überlagert: in Japan durch den Buddhismus, in Europa durch das Christentum.
Und was bleibt uns heute? Während in Japan der Shunbun no Hi (春分の日) bis heute als offizieller Feiertag begangen wird (2025 fällt er auf den 20. März), ist die Frühlings-Tagundnachtgleiche in unseren Breiten fast gänzlich in Vergessenheit geraten. Vielleicht ist es an der Zeit, sich ihrer alten Bedeutung neu zu besinnen … und das mit einer erneuerten uralten Spiritualität.
Ergänzungen
[1] Beda Venerabilis, auch bekannt als der Ehrwürdige Beda (ca. 672/673 – 26. Mai 735), war ein angelsächsischer Mönch, Historiker, Theologe und Gelehrter. Sein Hauptwerk, die Historia ecclesiastica, vollendet um 731, beschreibt die Christianisierung der angelsächsischen Stämme und die Entwicklung der Kirche in England.
[2] Der Shinto-Glaube weist deutliche Spuren einer voragrarischen, animistischen Kultur auf. Ursprünglich basierte er auf der Verehrung von Kami, Naturgeistern, die in Bergen, Flüssen, Bäumen und Steinen wohnen – eine Weltanschauung, die typisch für Jäger- und Sammlergesellschaften ist. Frühe Rituale galten der Jagd und Fischerei, erst mit der Sesshaftwerdung und dem Reisanbau (ca. 300 v. Chr.) traten agrarische Elemente stärker in den Vordergrund. So entwickelten sich Gottheiten wie Inari (Reisgöttin) erst in dieser späteren Phase. Dennoch bewahrt der heutige Shinto viele vorlandwirtschaftliche Konzepte, insbesondere die Spiritualisierung natürlicher Phänomene.
[3] Auch in der germanischen Spiritualität finden sich Spuren einer voragrarischen, animistischen Weltanschauung, die später von agrarischen Strukturen überlagert wurde. Heilige Bäume, Quellen und Felsen spielten eine zentrale Rolle, was auf eine ursprüngliche Naturverehrung hindeutet. Archäologische Funde belegen frühe Tieropfer in Mooren und Hainen, die vermutlich jagdrituelle Bedeutung hatten. Gottheiten wie Ullr (Jagd, Winter) oder Skadi (Berge, Wildnis) könnten Relikte einer älteren, nicht-agrarischen Glaubenswelt sein. Erst mit der Sesshaftwerdung gewannen Fruchtbarkeitsgötter wie Freyr und Nerthus an Bedeutung, und Jahreskreisfeste wie das Jul-Fest oder das Frühlingsblót entwickelten sich aus älteren Naturritualen. Trotz dieser agrarischen Überlagerung blieben animistische Vorstellungen ein wesentlicher Bestandteil der germanischen Glaubenswelt.
[4] Die Higan-Woche (彼岸, „das andere Ufer“) ist eine buddhistische Gedenkzeit, die zur Frühlings- und Herbst-Tag-und-Nacht-Gleiche begangen wird. Sie symbolisiert den Übergang zwischen Diesseits (Shigan) und Jenseits (Higan) und dient der Ahnenverehrung. In dieser Woche besuchen Gläubige Friedhöfe, reinigen Gräber und bringen Opfergaben dar. Tempel halten Sutren-Rezitationen und Gebete ab, während traditionelle Speisen wie Ohagi (süße Reiskuchen) gereicht werden. Die Higan-Zeit betont zudem die sechs buddhistischen Tugenden (Pāramitā), insbesondere Großzügigkeit und Weisheit.
[5] Die animistische Weltsicht betrachtet die Natur als beseelt und sieht in ihr eine Welt voller Geister oder spiritueller Wesen. Im Animismus, einer der ältesten Formen religiösen Denkens, wird angenommen, dass nicht nur Menschen, sondern auch Tiere, Pflanzen, Flüsse, Berge, Winde und sogar unbelebte Objekte wie Steine oder Werkzeuge eine Seele oder einen Geist besitzen.
Diese Geister sind oft mit bestimmten Kräften oder Eigenschaften verbunden und können das Leben der Menschen beeinflussen – sei es positiv durch Schutz und Segen oder negativ durch Krankheit und Unglück, wenn sie nicht respektiert oder besänftigt werden.
In dieser Sichtweise ist die Natur keine bloße Ressource, sondern ein lebendiges Netzwerk von Beziehungen. Menschen stehen nicht über der Natur, sondern sind Teil dieses Gefüges und pflegen durch Rituale, Opfergaben oder bestimmte Verhaltensweisen ein Gleichgewicht mit den Geistern. Zum Beispiel könnten Jäger um Erlaubnis bitten, ein Tier zu töten, oder Bauern die Erde ehren, bevor sie säen, um die Geister nicht zu verärgern.
Die animistische Weltsicht war typisch für viele prähistorische und frühe Kulturen, einschließlich der Megalithkulturen, und findet sich auch heute noch in indigenen Gemeinschaften weltweit. Sie unterscheidet sich stark von monotheistischen oder rationalistischen Weltbildern, da sie die Grenze zwischen Materiellem und Spirituellem auflöst.
Bleibt am Ende nur noch zu erwähnen, dass das Wissen um einer Naturgeister-Welt auch im Kontext neuzeitlicher christlicher Weltsicht zu finden ist. Für diese Beschäftigung mit Naturgeistern mag hier Jakob Lorber (1800–1864) stehen, auf den ich sicher noch einmal gesondert eingehen werde.