Garten der Germanen (7)
Übersicht: Der Garten der Germanen; Geschichte (allgemein)
Wissens-Fundament und … Wackelstein
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Jeder, der schon einmal Versuche unternommen hat, eine Mauer zu setzen, wird bemerkt haben, dass man als erstes eine stabile und absolut waagerechte Fundamentfläche benötigt, um ordentlich weiterarbeiten zu können. Ähnlich vertrauen viele unserer Zeitgenossen auf ein grundlegendes, fundiertes Wissen, das tatsächlich auch vorhanden ist…
… allerdings fügt es sich in Bauwesen und Wissenschaft oft so, dass uns zunächst ein gutes Fundament zur Verfügung steht, doch dann ein einziger schief gelegter „Wackelstein“ die gesamte Mauer krumm machen kann. Ich denke, dass dies im Bildungswesen – sei es im akademischen, im akademisch-politischen oder im allgemeinbildenden Bereich – recht oft durch das sogenannte fragmentierte Wissen geschieht. Über dieses Thema habe ich bereits einen separaten Blog-Artikel verfasst. Kurz gesagt, konzentriert man sich in der Wissenschaft häufig zu sehr auf einzelne Bausteine und nicht auf das gesamte Werk des Erkennens und Wissens. Dies kann sowohl in der populären als auch in der reinen Wissenschaft zu verzerrten Schlussfolgerungen führen.
Bücher lesen hilft
In dem oben genannten (und verlinkten) Blog-Artikel vertrete ich außerdem die These, dass das Studieren physischer Bücher dabei helfen kann, nicht in diese „zersplitterte Wahrnehmungswelt“ zu verfallen. So erging es mir kürzlich selbst beim Lesen der über 600-seitigen Publikation von Johannes Hoops über Waldbäume und Kulturpflanzen im germanischen Altertum [1]. Es ist zunächst erstaunlich, dass dieses Thema überhaupt so umfangreich behandelt werden kann. Doch in einem derartig umfassenden, gedruckten Buch lassen sich – optisch leicht erfassbar – zahlreiche wichtige Nebenthemen finden, die in einem einzelnen wissenschaftlichen Arbeitspapier nie so gründlich dargestellt werden könnten, wie es eigentlich nötig wäre.
Um es etwas abzukürzen: In dieser Publikation war zu Beginn (vielleicht etwas unauffällig) ein wichtiger Stein gesetzt. Kein Grundstein, doch – und das ist meine Beobachtung – ein Stein, der von vielen Zeitgenossen bis heute schief im Mauerwerk verankert ist.
Es war der außerordentlich wichtige Hinweis (bereits 1905!) bei HOOPS, dass der Wald – genauer gesagt, der Naturwald (Urwald) in den gemäßigten Klimazonen der Erde – nie ein geeigneter Lebensraum für Menschen war, geschweige denn für die Germanen. Und genau um die Germanen und ihre Pflanzenwelt geht es in der fast 700 Seiten umfassenden Publikation des deutschen Historikers und Philologen Prof. Johannes Hoops (1865–1949).
Das richtige Bild: Waldsteppen-Siedlung |
Die Germanen lebten im Wald. Ein Irrglaube.
Noch einmal anders formuliert: Obwohl die wissenschaftliche Forschung spätestens um 1900 herausfand, dass die Germanen und ähnliche Völker nicht in dichten Wäldern lebten, sondern vielmehr in einer Art Wald-Steppe, hält sich bis heute in der Allgemeinbildung hartnäckig das Bild von den „im Wald lebenden Germanen“. Diese Vorstellung, stark geprägt durch römische Quellen wie die Schriften von Tacitus (ca. 58–120 n. Chr.), hat sich tief in das kollektive Gedächtnis eingebrannt.
Das antike-orientierte, neuhumanistische Bildungssystem
Im 19. und bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein war das Bildungssystem, besonders an Gymnasien und in der akademischen Welt, stark auf die Antike ausgerichtet. Die intensive Beschäftigung mit den Schriften der Römer und Griechen führte dazu, dass antike Darstellungen, wie die von Tacitus über die Germanen, fast unkritisch übernommen wurden. Sein Bild der indigenen Mitteleuropäer als „Waldvolk“ prägte nicht nur die wissenschaftliche Forschung, sondern auch die populäre Bildung, die sich stark an diesen klassischen antiken Texten orientierte.
Das romantisierte Bild blieb bestehen
Trotz archäologischer und paläobotanischer Erkenntnisse, die im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts zeigten, dass die Germanen und viele Völker zuvor in lichten Wald-Steppen lebten – einer Landschaft, die aus einem Mosaik von Wäldern, Niederwäldern, offenen Grasflächen und landwirtschaftlich genutzten Gebieten bestand – bleibt das romantisierte Bild der Germanen als Bewohner tiefer Wälder oft noch bestehen. Ehrlich gesagt, war das auch mein bisheriges Bild unserer indigenen Vorfahren. Übrigens stellte ich mir das Leben der sogenannten Wald-Indianer in Nordost-Amerika ebenso vor – und das ist ebenfalls grundlegend falsch.
Urwald ist der Feind…
Der natürlich gewachsene Urwald – sei es in Nordamerika, Sibirien oder hypothetisch in Europa – ist kein geeigneter Lebensraum für Menschen oder Großwild. Dieser Urwald ist auch wenig biodivers! Der Naturwald in den gemäßigten Klimazonen besteht aus Schattenwäldern und Sumpfland.
Hoops legt das in seinem Buch ab Seite 90 überzeugend dar:
Der Urwald ist der Feind und nicht der Freund des Menschen — das ist die Grundvorstellung, an der man überall festhalten muss, wenn man die Stellung des Waldes zum menschlichen Kulturleben bis in die neuere Zeit hinein richtig beurteilen will.
Der primitive Mensch unternimmt wohl Streifzüge in die Wälder, seinen dauerhaften Aufenthalt schlägt er darin nicht auf. Nur gezwungen dringt er in das ungastliche Innere des Urwaldes. […] Wer ihn in seiner ganzen grausigen Wirklichkeit, seiner trostlosen Verlassenheit kennenlernen will, der lese Middendorffs Sibirische Reise [2]. […] Es ist auch bezeichnend genug, dass nicht nur die mittelasiatischen Steppen, sondern sogar die arktischen Tundrenregionen, die sich nördlich von den dem sibirischen Waldgürtel ausdehnen, bevölkert sind, während das Innere des Urwalds [die sibirischen Waldgebiete] von keinem menschlichen Fuß betreten wird. […]
Es kann nicht nachdrücklich genug auf diese Tatsachen hingewiesen werden, da man immer wieder auf die verbreitete Ansicht stößt, dass „geschlossene, einförmige Waldgebirge wegen ihres unerschöpflichen Wildreichtums geradezu ein Paradies“ für ein primitives Jägervolk sein müssen, eine Auffassung, die sich auch in M. Muchs neuestem Werk [Die Heimat der Indogermanen] noch ausgesprochen findet. [3]
Neu im Bestand meiner kleinen Garten-Bibliothek… |
Fazit
Wie ich eingangs bereits erwähnte, sollte das Wissen, dass der Wald kein Kulturraum des Menschen ist, so fundamental sein, dass es in der ersten Schicht des „gemauerten Wissens“ Platz finden sollte. Hier möchte ich nochmals das Zitat von Hoops aufgreifen:
„Der Urwald ist der Feind und nicht der Freund des Menschen — das ist die Grundvorstellung, an der man überall festhalten muss, wenn man die Stellung des Waldes zum menschlichen Kulturleben bis in die neuere Zeit hinein richtig beurteilen will.“
(Wichtig: Nicht gemeint mit „Urwald“ ist hier der Niederwald, der auch per Brenn-Kultur bewirtschaftet wurde und ebenfalls nicht gemeint ist kultivierter Wald, wie der Hain, der mittels Waldweide – Beweidung durch Schafe oder Hausschweine – entstand)
Schlussfolgerung und Fragestellungen
Der nächste logische Schritt aus dieser Feststellung ist die Annahme, dass unsere Vorfahren offene Landschaften bevorzugten. Genauer gesagt: Steppen, Waldsteppen oder die sogenannten Galeriewälder. Diese Wälder ziehen sich in offenen, eher trockenen Landschaften entlang von Flüssen oder Seen.
1.) Interessant ist, dass sich solche Steppen und Steppengürtel nach der Eiszeit in Europa wie eine Art Autobahn erstreckten – von den heute noch existierenden eurasischen Steppen Westchinas bis nach Nordfrankreich. Könnte dies einst ein Großraum menschlicher Kulturen gewesen sein?
2.) Bemerkenswert ist auch, dass die ehemaligen Steppenböden Europas heute zu den fruchtbarsten Ackerflächen zählen, da sie mit Löß- und Schwarzerde bedeckt sind. Die Frage, die sich hier stellt: War der Mensch an dieser Entwicklung beteiligt? Etwa durch gezielte Steppenbrände? (siehe auch Brenn-Kultur)
3.) Weiterhin ist erwähnenswert, dass viele der vom Menschen kultivierten Nutzpflanzen ursprünglich aus der Steppenflora stammen. Die Frage, die sich hierzu oft stellt: Fand der Mensch diese Kulturpflanzen oder fanden die Kulturpflanzen den Menschen?
4.) Schuf erst der Mensch mit seinem, die Landschaft veränderten Feldbau eine bio-diverse Flora und Fauna in West- und Mitteleuropa? Ist hier nur die Kulturlandschaft bio-divers?
Doch auch diejenigen Zeitgenossen und Freude, die in diesen Tagen nach wieder verstärkt nach ihren indigenen Wurzeln suchen (keltisch, nordisch, germanisch, slawisch usw.), mögen ihre Vorstellung vom Leben unserer Ahnen noch einmal prüfen und gegebenenfalls etwas neu justieren. Gesichert scheint zu sein, dass unserer Ur-Völker (neben der unmittelbaren Realität ihrer täglichen Daseinsvorsorge) mental auf lichte Weite, Unbegrenztheit und Großzügigkeit gestimmt war und vermutlich so auch ihr Kern der Spiritualität.
Die Arbeit an diesen Fragen wird dem hier vorliegenden Inhortas-Blog sicher noch zahlreiche Beiträge bescheren. 😏
Heutiger eurasischer Steppengürtel (hellblau) [5] |
Weiter lesen: Der eurasische Steppengürtel >>
Quellen und weitere Bemerkungen
[1] HOOPS, Johannes; Waldbäume und Kulturpflanzen im germanischen Altertum; Straßburg 1905
[2] Much, Matthaeus; Die Heimat der Indogermanen im Lichte der urgeschichtlichen Forschung.; Berlin 1902; Seite 388
[3] von MIDDENDORFF Alexander Theodor; Reise in den äussersten Norden und Osten Sibiriens, während der Jahre 1843 und 1844: mit Allerhöchster Genehmigung auf Veranstaltung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg ausgeführt und in Verbindung mit vielen Gelehrten;
St. Petersburg, 1856
[4] Heutigentags ist man davon begeistert, weil vor allem die Schwarzerdeböden Kohlenstoff speichern (Kohlenstoffsenke). Waldböden oder gar die Böden des tropischen Regenwalds tun das nur sehr vermindert! Siehe dazu aber auch mein Blog-Artikel vom 20.7.2024: Kohlenstoffbindung durch Bodenlockerung und Freisetzung von Kohlendioxid (CO₂) aus dem Boden. Interessant für jeden Kleingärtner!
[5] Bildquelle und Bildrechte:
https://de.wikipedia.org/wiki/Eurasische_Steppe#/media/Datei:Eurasian_steppe_belt.jpg
https://de.wikipedia.org/wiki/Eurasische_Steppe