Vorbemerkung
◾ Der Arbeitstitel dieses Online-Projekts (Nützliches Gartenwissen und mehr…) hebt das nützliche Wissen in dem Sinne hervor, da es bekanntlich neben ihm auch reichlich unnützes Wissen gibt.
Zahlreiche Verlage, darunter Gruner + Jahr und der Riva Verlag, haben diesen Begriff populär gemacht, etwa durch ihre Buchreihe „Unnützes Wissen“. Aber auch andere Verlage haben sich an diesen Slogan angehängt und heute gibt es neben den verschiedensten Buchtiteln selbst einen entsprechenden Adventskalender. Natürlich ist das alles Unterhaltungsliteratur und ist nicht zu kritisieren. Doch es ist ein bemerkenswertes Phänomen, welches ich demnächst aufgreifen wollte.
Allerdings stieß ich bei meinen Recherchen zum „Garten der Germanen“ und zur nordamerikanischen und eurasischen Agrargeschichte auf das Thema des fragmentierten Wissens, welches ich dem Unnützen nun besser vorziehen und Betrachten werde.
Ich bemerke nämlich immer wieder, dass ich selber oft glaube, bestimmte Grundkenntnisse zu besitzen, die sich am Ende durch die besagte Fragmentierung als falsch herausstellen. Eine simple Sache mag als Beispiel dienen und das ist die Annahme, dass die Germanen oder auch die vielen verschiedenen Indianerstämme im Norden der USA und in Kanada in Wäldern lebten und dort in der Tiefe der Wälder auf Jagd gingen. Das ist falsch. So Hören oder Lesen wir, hier und da, und immer wieder verstreut von diesen Umständen, so etwa, wenn schon den Kindern erzählt wird, dass es neben den Prärie-Indianern auch die Wald-Indianer gibt [1]. Oder, wenn in den Anfangsszenen des Filmklassikers „Gladiator“ eine römische Legion im dichten Wald verschanzt, gegen die Germanen kämpft [2]. Und das ergibt ja nur einen Sinn, wenn diese „germanischen Wilden“ auch dort leben. Für die Römer war das der sagenumwobene Hercynische Ur-Wald.
Ein wirklich falsches Bild von den Germanen… |
Oder: Neulich auf der Landesgartenschau in Bad Dürrenberg (Sachsen-Anhalt) – ich berichtete bereits darüber – wurde die archäologische Grabung eines 9000 Jahre alten Grabes vorgestellt, das vermutlich die Überreste einer jungen Schamanin enthielt. Auch hier wurde uns die „Schamanin von Bad Dürrenberg“ etwas romantisierend als Wald-Bewohnerin dargestellt.
All diese Beispiele verdeutlichen, dass wir es hier (im positiven Sinne) mit Halbwahrheiten zu tun haben, die uns oft nur aus Unbedachtheit in einem bestimmten Teilkontext präsentiert werden.
Sie lebten nicht im Wald
Um den Leser nicht erst auf den nächsten Blogartikel warten zu lassen [hier zum angekündigten Beitrag]. Hier der Inhalt in Kürze: Die Urwälder Nordamerikas, Europas oder Sibiriens sind arm an Großwild und für Menschen noch nie ein dauerhafter Lebensraum gewesen. Hingegen war das die sogenannte Wald-Steppe. Das sind Steppen, die in hainartige Wälder übergehen – quasi als Pufferzone zum echten Urwald. Steppen wiederum entstanden dort (neben der Abhängigkeit vom Jahresniederschlag), wo sich fruchtbarer Boden befand (z.B. Schwarzerdeböden).
… und hier sind wir schon näher an der Wirklichkeit. |
Auf fruchtbaren Böden dominieren nämlich Gräser, welche als übermächtige Nährstoffkonkurrenten dort den Baumwuchs eindämmen und dann wiederum von Weidetieren zum Grasen aufgesucht werden. Sie halten das Grasland baumfrei [3]. Regelmäßige Steppenbrände (z.B. in der Prärie) bewirken ein Übriges (aber auch die weitere Düngung). Und seit es Menschen gibt, die das Feuer beherrschen, wurden Steppenbrände gezielt gelegt und so können wir diese Wald-Steppen auch als erste menschliche Kulturlandschaft betrachten.
Bereits aus diesem wenigen Übersichtswissen erklärt sich spielend leicht die Geschichte der Besiedlung Eurasiens und die Entstehung der Landwirtschaft. Wie gesagt, soll das aber Thema späterer Beiträge sein und so wenden wir uns zunächst allgemein dem Thema des fragmentierten Wissens zu.
Fragmentiertes Wissen – hier die Definition
Fragmentiertes Wissen (fragmented knowledge) bezieht sich auf Wissen oder Informationen, die in isolierten, unverbundenen Teilen vorliegen, ohne klare Zusammenhänge oder ein kohärentes Gesamtbild. Dieses Phänomen kann in verschiedenen Kontexten auftreten, z. B. in der Forschung, der Bildung oder im Alltagswissen. Es hat einige wichtige Aspekte:
Ursachen
1. Überinformation
In einer Zeit, in der Informationen leicht zugänglich und in großer Menge vorhanden sind (z. B. durch das Internet), kann Wissen fragmentiert werden, weil Menschen nur Bruchstücke davon aufnehmen, ohne es in einen größeren Zusammenhang zu bringen.
2. Spezialisierung
Wissenschaftliche Disziplinen und Berufe sind zunehmend spezialisiert. Das führt oft dazu, dass Experten tiefes Wissen in sehr engen Feldern haben, aber das Verständnis für angrenzende Disziplinen oder das Gesamtbild fehlt.
3. Mangel an Synthese
In vielen Bereichen fehlt es an der Synthese von Wissen – der Fähigkeit, verschiedene Wissensfragmente zusammenzuführen und zu integrieren, um ein vollständigeres Verständnis zu schaffen.
4. Absichtliche Manipulation
Siehe unten unter „Missbrauch“
Nachteile (allgemein)
1. Fehlender Kontext
Fragmentiertes Wissen kann zu Missverständnissen oder falschen Interpretationen führen, da Informationen ohne den entsprechenden Kontext oft unvollständig oder irreführend sind.
Unvollständige Entscheidungen: In Entscheidungssituationen kann fragmentiertes Wissen problematisch sein, da wichtige Aspekte oder Zusammenhänge fehlen. Das gilt in der Politik, Wirtschaft oder auch im Alltag.
2. Oberflächliches Verständnis
Wenn Menschen nur fragmentierte Informationen konsumieren (z. B. durch kurze Artikel, Nachrichten oder Social-Media-Beiträge), kann dies zu einem oberflächlichen Verständnis komplexer Themen führen.
Vorteile (allgemein)
1. Modulare Herangehensweise
In manchen Fällen kann fragmentiertes Wissen nützlich sein, etwa wenn komplexe Themen in handhabbare Einzelteile zerlegt werden, die später zu einem größeren Ganzen zusammengesetzt werden können. Das kann besonders in der Forschung oder beim Lernen hilfreich sein.
2. Anpassungsfähigkeit
Fragmentiertes Wissen kann dazu führen, dass Menschen flexibler sind und sich schneller auf neue Informationen einstellen können, wenn sie bestimmte Fragmente sofort verstehen und anwenden.
Möglichkeiten, fragmentierte Wissensaneigung zu vermeiden:
1. Interdisziplinarität
Indem man Wissen aus verschiedenen Disziplinen verknüpft, kann man ein umfassenderes Verständnis entwickeln und Fragmentierung überwinden.
2. Synthese, Reflexion und Lösungsvorschläge
Das aktive Bemühen, Informationen zusammenzuführen, kritisch zu reflektieren und in einen größeren Kontext zu stellen, ist eine wirksame Methode, um Fragmentierung zu reduzieren.
Ich vertrete die Auffassung, dass dieses „Stellen in einen größeren Kontext“ besonders durch die Wissensvermittlung über das klassische, physische Buch erfolgt und der Inhalt interdisziplinäre Kenntnisse vermittelt werden.
Johannes Hoops: „Waldbäume im germanischen Altertum„, Straßburg 1905, über 600 Seiten. Eine interessante inhaltliche Aufteilung: Jedem Kapitel sind die Quellenangaben vorangestellt. |
Insbesondere in Bezug auf Übersichtlichkeit halte ich das gedruckte Buch dem eBook Reader weiterhin überlegen. Vorlesungen oder Vorträge – auch im Video-Format – ergänzen das Buchwissen. Ebenso können Fachtagungen, Symposien und je nach Thema auch Exkursionen mit Fachkollegen dabei helfen, fragmentiertes Wissen auf eine Ebene nützlicher Wissensvermittlung zu heben.
Im Internet ist es schwer, ein umfassendes Übersichtswissen zu vermitteln. Eine Hilfe dabei soll meine Zeittafel bieten, wenn es um unser Geschichtsbild geht. Vielleicht wäre es sinnvoll, sich anzugewöhnen, den Inhalt eines Artikels (sei es wissenschaftlich, politisch usw.) nicht nur in einer inhaltlichen Zusammenfassung (Abstract) darzustellen, sondern auch ein Fazit im erweiterten Kontext zu ziehen.
Insgesamt stellt fragmentiertes Wissen eine Herausforderung dar, die durch die ständig wachsende Menge an verfügbaren Informationen noch verstärkt wird. Es erfordert bewusste Anstrengungen, unsere Erkenntnisse nicht zu zerstreuen, sondern zusammenzuführen und zu integrieren, um ein umfassenderes Verständnis der Welt zu entwickeln.
Missbrauch
Übrigens: Fragmentiertes Wissen kann auch gezielt für Propaganda oder Manipulationstechniken eingesetzt werden. Dabei werden Informationen bewusst aus dem Zusammenhang gerissen und nur in unzusammenhängenden Teilen präsentiert, um die Wahrnehmung des Publikums zu beeinflussen.
Es werden nur Puzzleteile gegeben und niemals das ganze Bild gezeigt, was das Zu-Ende-Denken einer Kausalkette verhindert. Das ist klever.
Durch das Streuen von isolierten Fakten oder Halbwahrheiten, ohne den größeren Kontext darzustellen, wird es für die Rezipienten also schwerer, ein kohärentes und korrektes Gesamtbild zu entwickeln. Dies führt zu Fehlinformationen oder verzerrten Wahrnehmungen, die den gewünschten ideologischen oder politischen Zwecken dienen können. Solche Techniken werden oft in Medienkampagnen oder politischen Debatten genutzt, um die Meinung der Öffentlichkeit zu lenken. Man schalte nur die üblichen Radio- oder Fernsehsender ein oder äquivalent vergleichbare Publikationen im Internet…
Quellen und weitere Hinweise
[1] https://www.kindernetz.de/wissen/indianer-indigene-voelker-nordamerika-100.html
[2] Gladiator – Initial Battle Scene (YouTube)
[3] Die Sache ist noch etwas komplexer, weil beispielsweise fruchtbare Schwarzerdeböden selber erst durch nacheiszeitliche Steppenlandschaften entstanden sind. Es wird also interessant.
- https://www.agrarraum.info/lexikon/schwarzerde
- https://www.agrarraum.info/lexikon/steppe
- https://www.hlnug.de/fileadmin/dokumente/boden/boden-infos/BJ_2005_EndfassungSchwarzerde.pdf
- https://peerj.com/articles/13861/ Die Auswirkungen fragmentierter Lektüre von Universitätsstudenten auf die kognitive Entwicklung im Zeitalter der neuen Medien: Erkenntnisse aus der chinesischen Hochschulbildung
- https://sciencepublishinggroup.com/article/10.11648/j.ijecs.20180301.13 Die effektive Anwendung fragmentierten Lernens unter Anleitung des Konstruktivismus
- (die Quellen werden noch vervollständigt)